Durch das achtsame Wahrnehmen des Atems können wir uns darin üben, auf ein einziges Objekt konzentriert zu bleiben, aber Sie sollten nicht erwarten, dass Ihre Aufmerksamkeit unerschütterlich auf den Atem gerichtet bleibt. So funktioniert unser Gehirn nicht. Kehren Sie mit der Aufmerksamkeit einfach immer und immer wieder zum Atem zurück, wenn Sie feststellen, dass Ihre Gedanken abschweifen. Das ist alles. Denken Sie an den Zen-Spruch: „Wenn du sechs Mal hinfällst, stehe ein siebtes Mal auf.“ Leute, die behaupten: „Ich kann nicht meditieren“, gehen wahrscheinlich von der falschen Annahme aus, dass sie sich intensiver konzentrieren müssten.
Ablenkungen sind Teil der Meditation. Wir sollten jeden Augenblick, in welchem wir eine Ablenkung als solche erkennen, willkommen heißen und nicht als Gelegenheit zur Selbstkritik betrachten, denn er zeigt uns, dass wir gerade aus unseren Tagträumen „aufgewacht sind“.
Manchmal kann Tagträumerei auch eine gute Sache sein, beispielsweise eine Quelle kreativer Inspiration, ähnlich wie Sigmund Freud unsere nächtlichen Träume als den „Königsweg zum Unbewussten“ beschrieb. Wesentlich ist, dass wir wissen, wann wir Tagträumen und gelegentlich aufwachen. Leider geht unsere Aufmerksamkeit in den Tagträumereien meistens verloren und wir leiden unter belastenden Gedanken wie „Sehe ich fett aus?“ oder „Das war doof!“ Wenn wir dann zum Atem zurückkehren, bekommen wir eine Verschnaufpause. In diesem Moment gibt es kein Problem. Schauen Sie einmal, was passiert, wenn Sie, aufgeregt oder verärgert, einen Spaziergang machen und sich nur darauf konzentrieren, wie sich Ihre Fußsohlen beim Auftreten auf den Bürgersteig anfühlen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft … kein Problem.
Das „Default–Netzwerk“
Im Jahre 2001 identifizierten die Hirnforscher Debra Gusnard und Marcus Raichle ein ganzes Netzwerk von Hirnarealen – das sogenannte Default Network –, die in Ruhe aktiver oder stärker vernetzt sind und die inaktiv werden, wenn Aufmerksamkeit gefordert ist, beispielsweise eine Aufgabe gelöst werden soll. Wenn die Gedanken während der Meditation „auf Wanderschaft gehen“ wechselt das ganze Gehirn in einen speziellen Modus, den Default Mode. Das Default Network arbeitet im Hintergrund, es verbindet unsere Vergangenheit mit der Zukunft und gibt uns ein „Ich-Gefühl“. Normalerweise werden wir nur dann auf es aufmerksam, wenn es versagt, wie beispielsweise bei Alzheimer-Patienten, die „mental leer“ erscheinen.
Guiseppe Pagnoni et al. von der Emory University beobachteten das Default Network während der Meditation mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie. Sie baten zwei Gruppen von Studienteilnehmern – Zen-Praktizierende, die über einen Zeitraum von drei Jahren täglich meditiert hatten und eine Vergleichsgruppe ohne jegliche Meditationserfahrung – sich auf ihren Atem zu konzentrieren, dabei gelegentlich zu entscheiden, ob eine gezeigte Buchstabenfolge ein echtes englisches Wort bildete („Begriffsverarbeitung“) und dann wieder zum Atem zurückzukehren. Die mentale Verarbeitung von Begriffen aktivierte das Default Network. Dabei zeigte sich, dass die Zen-Praktizierenden schneller in der Lage waren, zum Atem zurückzukehren und das Default-Network abzuschalten als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe. Sie konnten sehr rasch die Assoziationskette unterbrechen, die durch das Nachdenken über die Bedeutung der Wörter spontan in Gang gesetzt wurde. Die Autoren der Studie nehmen daher an, dass diese Fähigkeit dazu beitragen kann, psychische Störungen zu lindern, die mit einem Hang zum Grübeln einhergehen, wie beispielsweise Zwangsstörungen, Angststörungen und schwere Depressionen.
Warum wir überhaupt ein solches Default Network haben, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Gusnard und Raichle vermuten aber, dass dieses Netzwerk unerlässlich für unser mentales Funktionieren ist. So ist beispielsweise der dorsomediale präfrontale Kortex, ein Hirnareal, das aktiv ist, wenn wir unsere eigenen Gedanken und Worte sowie die Handlungen anderer beobachten, Teil des Default Netzwerks. Dieser ist anscheinend nicht nur an der „freien Assoziation“ und dem „Schweifen der Gedanken“ beteiligt, sondern auch an unseren Zukunftsplanungen. Meditierende sollten sich also nicht dafür verurteilen, wenn ihre Gedanken abschweifen, denn ihr Gehirn tut etwas, das es von Natur aus im Ruhezustand tun muss.
Sollten Sie feststellen, dass sich Ihr Stresspegel bei der Übung „Achtsames Atmen“ erhöht, versuchen Sie sie anders zu machen. Lassen Sie als Erstes den Gedanken los, „es richtig machen zu wollen“. (Sie werden es nie richtig hinbekommen, und Sie werden es nie falsch machen.) Lernen Sie, harmonisch mit dem Geist zu arbeiten, so wie er ist. Es werden immer wieder Erinnerungen oder Gefühle hochkommen, die Ihre Konzentration stören, und es gibt keinen Grund zu verzweifeln, wenn das geschieht. Wir meditieren nicht, um „besser zu werden“, sondern, um unser zwanghaftes Bestreben, alles besser zu machen, aufzugeben. Einen erfahrenen Praktizierenden erkennt man daran, dass er bereit ist, urteilsfrei immer wieder zum Atem zurückzukehren – Jahrzehnte lang.
Das Ausrichten auf und Verankern der Aufmerksamkeit im Atem ist mehr als ein Hilfsmittel, um Konzentrationsfähigkeit und Gelassenheit zu üben – es hilft Ihnen, zu erkennen, wie Ihr Geist funktioniert. Es ist, als ob man eine Kamera ruhig hält, um eine Aufnahme zu machen. Die drei Übungen, die Sie bisher kennengelernt haben, haben Ihnen gezeigt, wie rasch der Geist abschweift, vergleicht, urteilt, und alles, was er wahrnimmt, mit einem Etikett versieht. Je öfter und länger Sie meditieren, desto mehr werden Sie über Ihren Geist herausfinden. Und Sie werden auch eine Menge über sich selbst herausfinden: über Ihre Gefühle, Erinnerungen und darüber, wie Sie auf verschiedene Umstände reagieren.
Zu wissen, dass Ihnen Ihr Anker jederzeit Zuflucht bietet, lässt Sie mutiger werden auf Ihrer inneren Entdeckungsreise. Wie ein Kind, das sich ängstlich hinter dem Rock seiner Mutter versteckt hat, wagen wir eher einen Blick in unsere turbulenten Innenwelten, wenn wir wissen, dass wir uns beruhigen können, indem wir zum Anker (Atem) zurückkehren.
Achtsamkeit auf den Körper
Der Körper ist die Basis der Achtsamkeitsschulung. Wir leben in einem Körper, also müssen wir, um das Leben in seiner Ganzheit wertschätzen zu können, auch den Körper ganz wahrnehmen und spüren. Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, sollte der Körper für uns nicht weniger wichtig sein als der Geist. Alles, was jetzt da ist, kann als Objekt für achtsames Gewahrsein dienen. Da die körperlichen Abläufe relativ langsam und gleichbleibend sind, eignet sich der Körper ausgezeichnet als „Aussichtspunkt“ zur Beobachtung unserer Gedanken und Gefühle. Beim Versuch, in der Achtsamkeitsmeditation das Denken zu beobachten, haben wir ein Problem, weil unsere Gedanken so schnell kommen und gehen, dass wir ihnen kaum folgen können. In dem Moment, da wir ihrer gewahr werden, sind sie schon wieder Vergangenheit. Außerdem verliert sich der sich selbst beobachtende Geist leicht in seinen eigenen Gedankengängen. Es ist viel leichter, im gegenwärtigen Augenblick bewusst zu bleiben, wenn man sich auf den Körper konzentriert. Durch das Ausrichten auf den Atem haben wir schon mit der achtsamen Körperwahrnehmung begonnen. Jetzt wollen wir unser Wahrnehmungsfeld auf die mit dem Atem einhergehenden Körperempfindungen ausdehnen.
Körperempfindungen achtsam wahrnehmen
Diese Übung dauert etwa 20 Minuten. Nehmen Sie eine bequeme, stabile Körperhaltung ein, schließen Sie die Augen und atmen Sie drei Mal tief und entspannt ein und aus.
• Sehen Sie sich selbst vor Ihrem geistigen Auge. Visualisieren Sie Ihre Sitzhaltung auf dem Stuhl, so als würden Sie sich von außen betrachten.
• Spüren Sie Ihren Atem im Körper und üben Sie ein paar Minuten lang achtsames Atmen. Lassen Sie Ihren Körper von selbst einatmen und atmen Sie jedes Mal bewusst aus – ein Atemzug folgt auf den anderen.
• Dehnen Sie nach ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper aus, den Raum, der von Ihrer Haut umhüllt ist. Ihr Körper ist immer aktiv, voller Leben. Lassen Sie Ihre