Weltordnungskrieg. Robert Kurz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Kurz
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783866748989
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europäische Zentrum des westlichen Kapitalismus wenig hätte entgegensetzen können.

      Aber in derselben Entwicklung, die den europäischen Kampf um die kapitalistische Weltherrschaft als Patt ausgelaugter und demoralisierter Nationalsubjekte hatte enden lassen, war auch das westliche kapitalistische Machtzentrum selber entscheidend und irreversibel transformiert worden. Denn zum andern hatten sich, parallel zur politisch-militärischen Emanzipation und „nachholenden Modernisierung“ des globalen Ostens und Südens, die USA auf gar nicht einmal so leisen Pfoten, aber dennoch in gewisser Weise hinter dem Rücken der ursprünglichen europäischen Zentralmächte des Kapitals, zur neuen Weltmacht Nr. l aufgeschwungen.

      Das Machtzentrum des Kapitalismus hatte sich über den Atlantik nach Nordamerika verlagert. Durchaus ähnlich wie im Fall der Sowjetunion, nur in einer gänzlich anderen, nämlich konkurrenzkapitalistischen statt staatsbürokratischen Tradition, war es die schiere Bevölkerungsmasse auf einer bereits längst entwickelten industriellen Basis, die den Koloss USA im Vergleich zu den eher mickrigen europäischen Nationen als wirkliche Führungsmacht des Kapitals prädestinierte.

      Der kontinentale Umfang des Landes zwischen Atlantik und Pazifik (mit dem Blick eines Januskopfes gleichzeitig nach Europa und Asien), die wie in Russland scheinbare Unerschöpflichkeit der natürlichen Ressourcen und die (im Unterschied zu Russland) geballte Masse der Kaufkraft konstituierten den bis heute größten Binnenmarkt der Welt. Deshalb gingen die wichtigsten kapitalistischen Entwicklungen, sozialen Strukturveränderungen, technologischen und kulturellen Trends zunehmend von den USA aus, um anschließend in mehr oder minder großem Ausmaß die Welt zu überrollen. Kein Wunder, dass das 20. Jahrhundert „das amerikanische Jahrhundert“ genannt wurde (zuerst von Henry Luce im Jahr 1941, wie der US-Historiker Paul Kennedy bemerkt).

      Vor diesem Hintergrund wuchs auch die militärische Potenz der aufsteigenden Weltmacht USA in eine bis dahin unbekannte Dimension hinein. Schon die beiden Weltkriege waren nur durch das Eingreifen der USA entschieden worden, und die europäischen „Siegermächte“ sahen dem deutschen Verlierer nicht nur hinsichtlich der erlittenen Schäden zum Verwechseln ähnlich, sondern sanken auch rasch zu mehr oder weniger verschämten bzw. aufmüpfigen, die eigene imperiale „Ehre“ pflegenden Hintersassen der USA herab; dabei in mancher Hinsicht ehemaligen Diven vergleichbar, die im bitteren Alter den verflossenen Zeiten ihrer jugendlichen Erfolge nachtrauern.

      Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Überlegenheit der neuen Weltmacht Nr. l in jeder Hinsicht derart erdrückend, dass sie die wechselnden Vorteile aller früheren, immer nur vorübergehenden europäischen Vormächte weit übertraf. Nicht ohne Stolz stellt Paul Kennedy fest: „Weil der Rest der Welt nach dem Krieg so erschöpft war oder sich immer noch im Zustand kolonialer ,Unterentwicklung‘ befand, war die amerikanische Macht 1945 - in Ermangelung eines besseren Begriffs - künstlich so hoch wie beispielsweise die britische um 1815. Trotzdem waren die tatsächlichen Dimensionen ihrer Macht in absoluten Zahlen historisch beispiellos… In der Tat expandierte die Industrie in den Vereinigten Staaten in den Jahren 1940 bis 1944 schneller - über 15 Prozent im Jahr - als je zuvor oder danach… Der Lebensstandard und die Produktivität pro Kopf waren höher als in allen anderen Ländern. Die Vereinigten Staaten waren das einzige Land unter den Großmächten, das durch den Krieg reicher - und tatsächlich viel reicher - wurde statt ärmer“ (Kennedy 1991/1987, 533 f.).

      Zwei Drittel der gesamten Goldreserven der Welt lagerten am Ende des Zweiten Weltkriegs in Fort Knox, dem Schatzhaus Washingtons. Und dieser monetären absoluten Überlegenheit entsprach die industrielle: „1945 befinden sich drei Viertel des auf der Welt investierten Kapitals und zwei Drittel der intakten industriellen Produktionskapazitäten in den USA“ (Ott/Schäfer 1984, 420). Mit dieser überwältigenden ökonomischen Macht im Rücken entstand seit dem Zweiten Weltkrieg die „permanente Kriegswirtschaft“ der USA, deren Rüstungsindustrie, Armeestärke, permanent weiterentwickelte technologische Ausrüstung und globale militärische Präsenz (heute in 65 Ländern aller Kontinente) für die übrigen Mächte des westlichen kapitalistischen Zentrums rasch uneinholbar wurden.

      Nur die Sowjetunion als staatskapitalistische Gegenweltmacht der historischen Nachzügler konnte den USA nach 1945 politisch-militärisch noch einige Zeit Paroli bieten, wie umgekehrt allein die USA als westliche Vormacht an Stelle der abgetakelten europäischen Mächte das konkurrierende staatskapitalistische Gegensystem (und dessen Ausstrahlungskraft auf die gesamte Peripherie) in Schach zu halten vermochten.

      Schon im 19. Jahrhundert hatte der französische Historiker und Gesellschaftstheoretiker Alexis de Tocqueville diese Konstellation in einer berühmten, immer wieder zitierten Prognose richtig vorausgesehen: „Es gibt heute auf Erden zwei große Völker, die, von verschiedenen Punkten ausgegangen, dem gleichen Ziel zuzustreben scheinen: die Russen und die Angloamerikaner. Beide sind im Verborgenen groß geworden, und während die Blicke der Menschen sich anderswohin richteten, sind sie plötzlich in die vorderste Reihe der Nationen getreten, und die Welt hat fast zur gleichen Zeit von ihrer Geburt wie von ihrer Größe erfahren. Alle anderen Völker scheinen die Grenzen ungefähr erreicht zu haben, die ihnen die Natur gezogen hat, und nur noch zum Bewahren dazusein; sie aber wachsen: alle anderen stehen still oder schreiten nur mit großer Mühe weiter; sie allein gehen leichten und raschen Schrittes auf einer Bahn, deren Ende das Auge noch nicht zu erkennen vermag. Der Amerikaner kämpft gegen die Hindernisse, die ihm die Natur entgegenstellt; der Russe ringt mit den Menschen. Der eine bekämpft die Wildnis und die Barbarei, der andere die mit all ihren Waffen gerüstete Zivilisation: so erfolgen denn die Eroberungen des Amerikaners mit der Pflugschar des Bauern, die des Russen mit dem Schwert des Soldaten. Um sein Ziel zu erreichen, stützt sich der eine auf den persönlichen Vorteil und lässt die Kraft und die Vernunft der einzelnen Menschen handeln, ohne sie zu lenken. Der zweite fasst gewissermaßen in einem Manne die ganze Macht der Gesellschaft zusammen. Dem einen ist Hauptmittel des Wirkens die Freiheit, dem andern die Knechtschaft. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind ungleich; dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten“ (Tocqueville 1987/1835, 613).

      Was Tocqueville hier in der Sprache des 19. Jahrhunderts formuliert, ist erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahr geworden: die Aufteilung der Welt unter die USA und die Sowjetunion, und die letzte Zuspitzung des Kampfes um die Weltherrschaft innerhalb des modernen warenproduzierenden Systems zwischen diesen beiden Mächten, die in der Epoche des Kalten Krieges auf durchaus zutreffende Weise im Unterschied zu den vorherigen Groß-, Vor- und Weltmächten als „Supermächte“ bezeichnet wurden; beide gleichermaßen und nicht zufällig „multiethnische“ Bundesstaaten von kontinentalen Ausmaßen, die über den beschränkten kapitalistischen Nationsbegriff Europas in allen seinen Varianten hinausgewuchert waren.

      Auch an der gegensätzlichen Struktur dieser beiden Mächte, die nach 1945 als „Systemkonflikt“ begrifflich überdehnt wurde, hatte Tocqueville etwas Richtiges wahrgenommen, es allerdings bereits nicht weniger überspitzt und nur halb wahr formuliert wie die Protagonisten dieses Gegensatzes mehr als ein Jahrhundert später. Die heutige Welt ist noch immer ebenso unfähig, das gemeinsame kategoriale Bezugssystem der modernen Warenproduktion als eine distinkte historische Gesellschaftsform (statt als ahistorische gesellschaftliche Ontologie) wahrzunehmen wie die Zeit Tocquevilles. Was bereits diesem als grundsätzliche Differenz erschien, sind nur die beiden Pole kapitalistischer Vergesellschaftung von Markt und Staat; beide im gleichen Ausmaß repressiv, denn der bürokratischen Macht steht nicht die „Freiheit“ schlechthin gegenüber, sondern nur die durch den Zwang der Konkurrenz selber in Despotismus umschlagende sogenannte Marktfreiheit.

      Der Staatskapitalismus war in Wahrheit nicht nur in Russland (schon zur Zarenzeit), sondern auch in West- und Mitteleuropa die ursprüngliche Konstitutionsform der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie der feudalen Agrargesellschaft übergestülpt wurde. Es gehörte neben dem industriellen Entwicklungsstand und der kontinentalen Dimension des Binnenmarktes zur einzigartigen kapitalistischen Potenz der USA, dass dort diese ursprüngliche europäische Transformationsform überflüssig war und sich das Kapital von vornherein in systemisch fortgeschrittenen Formen entwickeln konnte; ganz unbehindert durch eine historische Sedimentierung vormoderner Produktionsweisen und Kulturen, denn die europäischen Kolonisatoren hatten ja nicht