Den ersten „Schwindelanfall“ hatte er bei der Weihnachtsfeier in der Schule bekommen. Da hatte er noch geglaubt, dass dahinter eine Erkältung steckte und ein plötzliches Fieber ihn verwirrte. Alle Schüler und Lehrer hatten sich vor den Ferien in der Aula versammelt. Die kleine Bühne war weihnachtlich geschmückt. Der Schulchor sang alte und neue Weihnachtslieder. Niccolò hatte leise mitgesungen. Doch dann hatte er nur noch eine Stimme gehört. Hell und weit schwingend, wie Glockenläuten in einer Sternennacht, hatte sie geklungen – „ ... Al-les schläft, ein-sam wacht nur das trau-te, hochhei-li-ge Paar. Hol-der Knabe im lok-ki-gen Haar, schlaf in himm-li-scher Ruh, schlaf in himm-li-scher Ruh! ...“
Er war auf seinen Stuhl gestiegen und hatte die Bühne abgesucht. Die Aufregung hatte ihn heftig schlucken lassen, seine Kehle war trocken, und hinter der Stirn schienen ihn tausend Nadeln zu pieken. Einen Sänger nach dem anderen sortierte er aus, und mit einmal war er sich sicher: Ihr gehörte die traumhafte Stimme! Bevor die Feier zu Ende war, hatte er herausgefunden, wer sie war: Imke Liebstöckel, eine Schülerin der zehnten Klasse.
Nach den Weihnachtsferien, er war noch immer von Imke beeindruckt, da erlitt er den zweiten Schwindelanfall. Die untersten Klassen hatten eine neue Lehrerin bekommen. Die Jungen aus den höheren Klassen schickten scharfe Pfiffe hinter ihr her, wenn sie auf hochhackigen Schuhen, in einem glänzend schwarzen Lederrock und hautengem dunkelrotem Pulli vorbeiklackte. Sie nannten sie, wenn sie unter sich waren, nach dem mexikanischen Vulkan „Señorita Popocatepetl“. Mehr noch als von den anderen äußeren Reizen der neuen Lehrerin, fühlte Niccolò sich von ihren geheimnisvollen dunklen Augen angezogen. Einmal war er ihr ziemlich nahe gekommen, als sie in einer Unterrichtspause über den langen Schulflur durch eine enge Gasse von gaffenden und pfeifenden Jungen gehen musste. Der Stoß Bücher, den sie vor sich hertrug, war ihr aus den Händen gerutscht. Niccolò sprang hinzu und half ihr die Bücher aufzusammeln. Sie knieten einander gegenüber, beim Vorbeugen stießen ihre Stirnen zusammen und sie mussten lachen. Als die junge Frau längst im Lehrerzimmer verschwunden war, atmete Niccolò noch ihren Duft, der ihn in Unruhe versetzte. Die zweite Schöne hieß Rebekka Mandelstern und war erst vor ein paar Jahren von Israel nach Deutschland gekommen. Sie hatte hier studiert und unterrichtete nun an ihrer ersten Schule. Mehr konnte Niccolò erst einmal nicht über sie erfahren.
Keine Woche später war Niccolò zum dritten Mal ins Schlingern gekommen, als wäre er ein winziges Schiff, das auf hoher See in einen Sturm geraten war. Das passierte in der Hofpause. Niccolò und sein Freund Ole waren einem Papierflieger nachgerannt, den der Wind über den Schulhof trieb. Ole, lang aufgeschossen, mit Burattinonase, war plötzlich stehen geblieben, weil er sich wohl schämte, wie ein Erstklässler umherzuhaschen. Doch Niccolò war weitergerannt und hatte in hohen Sprüngen nach dem wirbelnden Papier gegriffen. Dann war er mit irgendetwas zusammengestoßen.
Als er die Augen wieder öffnete, saß er neben Paula Klette auf dem Schulhof. Seit seiner Einschulung ging er mit ihr in dieselbe Klasse. Im Klassenzimmer saß sie eine Reihe vor ihm. In all den Jahren hatten sie nur ein paar Worte miteinander gewechselt.
Paula Klettes Augen rollten zornig hinter ihrer roten Herzbrille.
„He, kannst du denn nicht aufpassen, Rosenbusch!“
„Tut mir leid, Klette. Tut’s denn weh?“
„Du kannst vielleicht dreimal bekloppte Fragen stellen. Das wird bestimmt eine Beule wie ein Riesenkürbis. Warum musst du auch herumspringen wie ein verliebter Affe.“
„Wie springt denn der?“ Niccolò drückte die Faust auf seine schmerzende Stirn. Die zierliche Paula Klette hatte einen ziemlich harten Kopf.
„Der Affe springt gerade so wie du“, sagte Paula und kicherte.
„Aber ich bin überhaupt nicht verliebt“, entgegnete Niccolò.
„Und warum wirst du dann rot wie ein Feuerwehrauto?“
Niccolò stand auf, reichte Paula die Hand und zog sie hoch. Er wünschte „Gute Besserung“ und ging zu Ole, der in der Nähe der Großen stand, um ihre Gespräche aufzuschnappen.
„Welcher Intercity war denn da entgleist?“, wollte Ole wissen. Niccolò zuckte nur mit den Schultern.
In der nächsten Unterrichtsstunde starrte Niccolò auf Paulas Hinterkopf, bis sie sich umdrehte und fragte: „Ist bei dir vielleicht ein Backenzahn locker?“
„Nein, das nicht.“ Niccolò hielt seine kühlen Handflächen auf die heißen Wangen gepresst und schüttelte heftig den Kopf.
Nachts und auch am Tag träumte Niccolò von einer der drei Schönen. Da sang er mit Imke Liebstöckel im Duett die neusten Popsongs. Oder er übte mit Rebekka Mandelstern Schnellrechnen, und sie fragte ihn: „Na, Niccolò, wie viel ist 3’704 mal 8’592?“ Er sah in ihre schwarzen Augen und fand die Antwort: „31’824’768!“ Und dann wieder probierte er mit Paula Klette in einem Optikergeschäft Brillen, bis es ihm schwindlig wurde.
War es denn möglich, dass ihn die Liebe erwischt hatte? Im Fernsehen und im Kino hatte er jede Menge Liebesgeschichten gesehen. Das war ihm immer ziemlich langweilig gewesen. Er hatte nicht verstehen können, dass am nächsten Schultag die Mädchen über ihre Filmhelden schwärmten und manchmal sogar in Tränen ausbrachen. Noch nie hatte er davon gehört, dass ein Junge drei Mädchen geliebt hätte. Da war er aber in eine verrückte Geschichte hineingeraten. Er hatte absolut keine Ahnung, wie das weitergehen sollte.
Niccolò drehte sich auf seinem Schulweg immer wieder im Kreis und hielt Ausschau nach Paula Klette. Sie wohnte auch in der Siedlung und hatte denselben Schulweg wie er. Er hatte noch nicht herausbekommen, um welche Zeit sie am Morgen das Haus verließ. Ob er sich nun früher oder später auf den Weg machte – einmal war sie vor ihm im Klassenzimmer und das andere Mal später.
Auch ihr Lachen, dass gewöhnlich weithin schallte, war nicht zu hören. Es gehörte zu ihr wie die blonden Igelhaare und die Brille, deren Gläser in Herzform rot umrahmt waren. Niccolò hatte Paulas Lachen früher dumm gefunden. Jetzt fand er ihr Lachen einfach großartig. Jedes Mal war es ihm, als würde er ein Schwall Wasser abbekommen, in dem bunte Fische zappelten.
„He, Niccolò! Alter, hier bin ich!“
Ole saß auf einem Pfeiler des Friedhofzauns. Er ruderte mit den langen Armen, seine schrille Stimme klang mal wieder, als sei gerade Fürchterliches passiert.
Niccolò griff in die Schulterriemen seiner Schultasche und begann zu rennen.
2.
„Hierher!“, rief Ole und rutschte beiseite, damit Niccolò sich neben ihn auf den Pfeiler setzen konnte.
„Hier gibt’s was zu sehen“, sagte Ole. „Mach’s dir bequem?“
„Was gibt es denn schon zu sehen?“
Schüler aus verschiedenen Klassen standen zusammen, sie lachten und schrien durcheinander. Paula war nicht darunter. Niccolò sagte missmutig: „Der Unterricht fängt gleich an.“
„Unterricht haben wir jeden Tag“, erklärte Ole. Seine spitze Nase schnüffelte neugierig. „Aber hier passiert gerade ein Verbrechen.“
„Was spinnst du dir denn da wieder zurecht, Mann?“
Gegenüber dem Schülerpulk stand am Feldrand ein alter Lindenbaum. Ein Schäferhund sprang kläffend und zwischendrin aufjaulend am Stamm hoch. Die Zweige der Linde waren noch kahl. Im oberen Geäst entdeckte Niccolò eine graugetigerte Katze, die sich wie zu einem Ball zusammengerollt hatte.
„Pass jetzt auf“, sagte Ole. „Der Weimann aus der Zehnten wirft gut. Peng! Der hat gesessen!“
Die Wucht des Steins riss die Katze fast vom Ast. Ihre Vorderpfoten krallten noch