»Lies vor.«
»Vielleicht zu spät, als eine Krähe/unseren Morgen kappt. Ein Schlag./Und ob sie fällt und ob sie weiterfliegt –/Ich frag zu laut, ob du noch Kaffee magst./Dein Blick ist schroff, wie aus dem Tag gebrochen.« Sanders dreht das Kalenderblatt so, dass der plötzlich zum Poeten gewordene Krawczyk es lesen kann.
Dieses Gefühl des Unabwendbaren im Text, das ist ganz Silke – die Silke, die vor fünf Jahren noch seine Frau war. Oder vielleicht war sie das nie. Vielleicht ist sie einfach immer nur mit Sanders’ Beamtenjob beim Landeskriminalamt verheiratet gewesen.
»Deine Frau ist abgehauen?«, fragt Krawczyk.
Sanders wirft einen zerkratzten Euro in sein Kopfkino, eine Klappe öffnet sich, und er blickt in den Abgrund.
Krawczyk haut mit der flachen Hand auf den Tisch. »Jetzt weiß ich wieder!«, sagt er, und seine Augen leuchten auf wie ein Bremslicht. »Du bist der Bulle, dem die Lorenzos die Frau aufgeschnitten haben! Und Scheiße, Mann, die war auch noch schwanger, deine Frau!«
Der Puls an Sanders’ Daumenwurzel zuckt unter der Haut wie ein Wurm. Sanders beult den Pappbecher ein und wieder aus.
»Klar, Mann, das war doch großes Thema! Dein Bild war in der Abendschau. Hast du aufgehört bei den Bullen?« Krawczyks Augen werden ölig.
Sanders hält stand, lehnt sich lässig zurück, aber er weiß, er muss weg hier. Er muss duschen, vielleicht zwei- oder dreimal, dann noch irgendetwas mit mehr Klasse hinterher trinken, um den Wodkageschmack loszuwerden, und schließlich schlafen.
»Was ist mit dem Kind passiert?«, fragt der Gorilla. Das Karmische im Raum scheint auf Krawczyk überzugreifen.
»Kinder«, sagt Sanders, »sind nicht so mein Thema.«
»Haste recht, Herr Sanders.« Krawczyk kippt den Rest von seinem Gesöff runter, beugt sich vor und klopft ihm auf die Schulter. »Männer in deinem Alter sollten eher für die Geburt von Kindern verantwortlich sein und nich dafür, dass se sterben.«
»Weise Worte.«
»Mann, du bist eine Kiezlegende, Herr Sanders. Du warst im Fernsehen. Hätt nich gedacht, dass du in echt so dürr bist. Im Fernsehen hast du ausgesehen, als hättest du einen ganz guten Körper.«
Es ist immer dieselbe Geschichte. Der Verlierer verliert alles, sogar seinen Körper.
»Jeder hier hat davon gehört, wie du den kleinen Lorenzo ausgeknipst hast. Groß, Herr Sanders. Ganz groß! Die Lorenzos ham hier schon jeden gefickt. Mich auch. Rocco Lorenzo, den hat hier keiner gebraucht, weißte.«
»Sei einfach still, Krawczyk.« Sanders’ Haut wird feucht und kalt. Er wird doch nicht schon wieder Schüttelfrost kriegen?
»Erzähl mal, wie das war. Wie du ihn kaltgemacht hast.« Krawczyks Augen glitzern wie Diskokugeln. »Wenn du’s mir erzählst, kannst du umsonst auf dem Hof parken, Mann. Für immer. Ich schwöre.« Krawczyk legt zwei Finger seiner rechten Hand auf sein gewaltiges Herz.
Sanders fühlt sich wie ein Kartenverkäufer an einer Kinokasse, dem das Kino abhandengekommen ist. Denn was Krawczyk hören will, ist noch nicht mal eine richtige Geschichte. Eine richtige Geschichte braucht ein Motiv. Diese hier ist einfach nur passiert.
»Willst du nicht lieber schon mal meinen Ausweis für den Mietvertrag kopieren gehen?«, schlägt Sanders vor und reibt sich das Kratzen aus den Augenwinkeln. Aber natürlich kennt er die Antwort.
Krawczyk rührt mit seinem Zeigefinger in der Luft herum, als wollte er ein Schwungrad in Gang bringen. Der Sekundenzeiger seiner nachgemachten Protzrolex zuckt nervös.
»Na schön. Was willst du hören, Krawczyk?«
»Wer schuld war, Mann. Das ist das Wichtigste.«
Der Fall Lorenzo liegt so, dass man sich entscheiden muss, woran man glaubt: an Ethik oder an Strafrecht. Nur ist das Glauben an sich nicht Sanders’ Stärke. Glauben hat viel zu viel mit Vertrauen zu tun, und Vertrauen ist eine schlechte Angewohnheit. Also hat er sich etwas zurechtgelegt. Es gibt wahre und wahrscheinliche Geschichten. Diese hier ist wahrscheinlich.
»Ich bin auf Zivilstreife«, sagt er und schnipst den alten Hundekeks über den Tisch, »Rocco Lorenzo ist mit seinem großen Bruder Heiko in einem Sportwagen unterwegs, rot, flach, vier Auspuffrohre. Heiko ist aktenkundig. Wir halten seinen Wagen an. Der Kollege filzt ihn. Er hat eine 44er Magnum im Hosenbund stecken. Heiko macht ein Riesentheater, leistet Widerstand. Es kommt zum Handgemenge. Und in dem ganzen Chaos greift sich Rocco dann plötzlich in die Jacke. Ich zieh schneller als er. Es ist ein Reflex. Momentversagen.«
»Du hast gedacht, er oder ich, Herr Sanders.« Krawczyk zuckt mit den Schultern.
Sanders erzählt sich die Geschichte immer so, wie sein Ego es gerade noch ertragen kann. Es wäre schön, jetzt eine Packung Lucky Strikes und einen schwachen Moment zu haben. Aber einen schwachen Moment hatte er schon lange nicht mehr. »Ich war ein Bulle«, sagt er. »Und Rocco war erst zwölf.«
»Was hatte er denn für eine Knarre in seiner Jacke?«
»Keine Knarre. Ein Hundebaby.«
Krawczyk bekommt Bambiaugen, sie drohen überzulaufen. »Was für eine Scheiße!«, sagt er mit zerfranster Stimme. »Das ist mal wirklich eine knallharte Geschichte, Mann.«
»Wenn es eine Geschichte wäre, dann würde sie irgendwie Sinn machen, eine Moral haben. Irgendetwas.«
Krawczyk schaut an ihm vorbei, auf das gleichmütige Dahinströmen der Beusselstraße. »Ich erzähl dir das Ende von deiner Story. Ist mir wieder eingefallen. Die Lorenzos haben sich an dir gerächt. Sie nehmen das Blut deiner Frau, aber deine Frau hat’s überlebt. Du gibst nich auf, Mann. Frau weg, Kind weg, Job weg, Haus weg. Du ziehst in eine billige Einraumwohnung im Getto. Du brauchst Geld, also arbeitest du von zu Hause aus als Detektiv. Du hast eigentlich nur einen Auftraggeber. Und der ist jetzt auf Staatskosten eingefahren. Nun brauchste neue Kunden, also brauchste ein Büro. Deshalb stehste vor mir. Richtig?«
»Fast richtig.« Es tut gut, das Lila der Wände anzuschauen. Sanders stellt sich vor, dass man die Blutspritzer darauf kaum sehen würde, falls ihm jetzt das Herz platzt. »Meine Wohnung ist weder billig noch im Getto«, sagt er. »Qualifiziert mich das trotzdem für einen Büromietvertrag?«
»Klar. Ich schreib dir einen. Kannst schon ma Visitenkarten drucken lassen.« Krawczyk steht auf und klopft Sanders auf die Schulter. »Wenn du ma was brauchst, du Held, weißte ja, kommste einfach zu Onkel Pawel. Ich hab hier das Fitnessstudio und einen kleinen Sicherheitsdienst, Türsteher, Objektbewachung, so was. Falls du ma ein Back-up brauchst.« Krawczyk zwinkert Sanders zu.
»Vielleicht kann ich am Tor ein Schild aufhängen.« Sanders steht auch auf. »Endlich Gewissheit – Ihr freundlicher Privatdetektiv sorgt für Klarheit.«
»Was immer du willst.« Krawcyzk winkt ihm zu. »Mein Haus ist dein Haus.« Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
Sanders schmeißt die Pappbecher, die Zeitung und den Kalender in den Papierkorb. Sein Hemd hat er durchgeschwitzt, er muss jetzt dringend heiß duschen, gegen den Schüttelfrost. Die Beusselstraße hat ihn erwischt. Erwartbar. Schließlich saugt der Job des Detektivs Honig aus der allgemeinen Verkommenheit dieser Ecke: ein Gemisch aus Eifersucht, Neugier, Geiz, Geilheit. Niedere Instinkte lassen die Kasse klingeln. Und um zu verschleiern, dass man im Dreck wühlt, nennt sich eine diskrete Detektei heutzutage Consulting.
Sanders schwebt eine Internetseite vor, auf der er »wir« schreibt, wenn er »ich« meint. Selbstverständlich wird er nur auf Empfehlung tätig, hat 95 Prozent Aufklärungsquote, ist durchweg diskret, high profile und schlichtweg exzellent. Und faire Preise. Nichts als die Wahrheit.
Er sieht die schmalen Umrisse seines Körpers in der Glasscheibe zum Warteraum, von der Jalousie in schwarze Streifen geschnitten. Sanders’ Zukunft wird darin bestehen, dass ein paar Typen, die noch hilfloser sind als er selbst,