«Wir begeben uns nun in den Hinrichtungsraum», ordnete Riese an. «An diesen grenzt der große Zellenbau, das Haus III, in dem die zum Tode Verurteilten untergebracht sind. Ihre letzten Stunden verbringen sie gefesselt in besonderen Zellen im Erdgeschoss.»
Ein kalter Schauer erfasste Kappe, es war schon fast Schüttelfrost. Dieses Warten auf den Tod musste die Hölle sein. Bei Fontane hatte er einmal eine solche Szene gelesen. In dessen frühem Roman Vor dem Sturm war im Oderland ein Aufstand gegen die französischen Besatzer gescheitert, und Lewin von Vitzewitz sah auf der Festung Küstrin seiner Hinrichtung entgegen.
Allmählich stieg die ganze furchtbare Wirklichkeit vor ihm herauf, und er lauschte, ob er nicht schon den Tritt eines ihn abholenden Wachkommandos hören könne. Wusste er doch, dass die Morgendämmerung die Zeit für sol che Szenen sei.
Aber was war die Stunde? Er griff nach der Uhr und ließ sie repetieren. Fünf. Das war noch zu früh; es konnte nicht vor sechs geschehen. Also noch eine Stunde Leben, aber auch noch eine Stunde Tod, und er wünschte sich die Minuten weg, um Gewissheit zu haben. Das Letzte, das Schreckliche konnte nicht so schrecklich sein wie diese Qual.
So musste es diesem Thomas Bethge ergehen, und anders als bei Lewin von Vitzewitz, der in letzter Sekunde von den Seinen gerettet wird, gab es für ihn keinerlei Hoffnung mehr.
Der Scharfrichter zog das Fallbeil nach oben, der Todeskandidat wurde in den Raum geführt.
Hermann Kappe wünschte sich, dass eine Krankenschwester kam und ihm ein Narkosemittel spritzte, damit er erst wieder aufwachte, wenn alles vorüber war. Schnell war ihm klar, dass er dieses Narkosemittel selbst produzieren musste – in seinen Gedanken. Vielleicht schaffte er es, sich selbst in eine hypnotische Trance zu versetzen. Er fixierte die Eisenhaken oben am Balken und begann, von hundert rückwärts zu zählen. Dabei kam er immer wieder durcheinander, denn der Strom seiner Gedanken ließ sich nicht aufhalten: Jeden Tag gibt es Tausende von Toten, da spielt dieser eine auch keine Rolle mehr … Der Mann ist selber schuld an seinem Schicksal … Das ist doch alles nur ein Film, gleich ist das Kino aus …
Überlagert wurde das alles von Bildfetzen, die er nicht unterdrücken konnte. Da spazierte er als Gendarm durch Storkow. Da ruderte er mit Klara und den Kindern auf den Scharmützelsee hinaus. Da jubelte er Max Schmeling zu.
Zwei Schreie rissen ihn in die Wirklichkeit zurück. Den einen hatte Thomas Bethge ausgestoßen, als man seinen Kopf auf der Guillotine fixiert hatte, den anderen der forsche Kriminalanwärter Männel, bevor er kollabierte. Damit hatte Friedrich Riese sein Opfer gefunden, und Hermann Kappe war gerettet.
ZWEI
DER BEZIRK NEUKÖLLN war bislang von Flächenbombardements verschont geblieben. Das galt auch für die Weisestraße, die parallel zur Hermannstraße in Ost-West-Richtung verlief. Allerdings hatte es am 29. Januar 1944 die nahe gelegene Genezarethkirche am Herrfurthplatz getroffen, und Ursula Fröhlich rechnete jeden Tag und jede Nacht mit dem Schlimmsten, zumal der Zentralflughafen keinen Kilometer entfernt lag.
Sie nutzte die Mittagspause, um die Lebensmittelmarken zu ordnen, die sie im Laufe des Vormittags von ihren Kunden in Empfang genommen hatte. Sie lebte von ihrem Kolonialwarenladen in der Weisestraße, den sie gemeinsam mit ihrem Mann geführt hatte, bis der im Spätsommer 1942 im Kaukasus gefallen war. Übernommen hatte sie das Geschäft von ihrem Vater, und so stand auf dem phantasievoll gemalten Schild über Schaufenster und Tür noch immer Bernhard Bethge – Kolonialwaren. Das bedeutete, dass die Kunden neben Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Zucker, Milch, Butter, Margarine, Wurst und Käse auch Waren aus den europäischen Kolonien erwarten durften, also Kaffee, Kakao, Reis, Tee und Gewürze wie Zimt und Nelken. Davon durfte allerdings im Jahre 1944 nur noch geträumt werden. Immerhin brauchte keiner zu verhungern, und sie, die an der Quelle saß, erst recht nicht. Fragte man die Leute, was ihnen auf dem Versorgungssektor am meisten Schwierigkeiten bereitete, hieß es: «Dass wir nicht genug und nichts Richtiges zu essen haben und dauernd nach was anstehen müssen.» Erst dann kamen Kleidung und die anderen Dinge des täglichen Bedarfs. Bei denen, die ausgebombt worden waren, stand die Wohnungsfrage an erster Stelle.
Alles in allem konnte Ursula Fröhlich mir ihrer Rolle als «Milchfrau» ganz zufrieden sein. Eigentlich hätten ihre beiden Brüder hinter dem Ladentisch stehen sollen, aber Thomas und Eberhard hatten sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.
«Wären sie nur vernünftig gewesen!», seufzte sie, denn beide waren irgendwie auf die schiefe Bahn geraten. Thomas war vor einigen Wochen wegen Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung verhaftet worden, und Eberhard hatte sich in Spandau aus der Kaserne entfernt und von seiner Truppe abgesetzt und war seitdem auf der Flucht. Kein Wunder, dass sie jedes Mal erschrak, wenn bei ihr geklingelt wurde, denn alle redeten von Sippenhaft und dass sie damit rechnen müsse, für die Verfehlungen ihrer Brüder zur Verantwortung gezogen zu werden.
Als sie den Korridor durchquerte, um vom Laden in ihre Wohnstube zu gelangen, bemerkte sie den grauweißen Briefumschlag, der gleich hinter der Wohnungstür auf dem roten Sisalteppich lag. Die Briefträgerin hatte sich offenbar nicht die Zeit genommen, zu ihr in den Laden zu kommen, sondern das Schreiben einfach in den Briefschlitz gesteckt. Das tat sie immer, wenn es unangenehme Sendungen waren, Traueranzeigen zum Beispiel. Ursula Fröhlich erschrak. Nein, ein schwarzer Trauerrand war nicht zu sehen, es war etwas Amtliches. Der Reichsminister der Justiz … Sie riss den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und faltete es auseinander. Es war eine Kostenrechnung. Für zwanzig Hafttage in Plötzensee stellte man ihr 30 Reichsmark in Rechnung, für die Hinrichtung 300 Reichsmark und für das Porto 12 Pfennige.
Als sie begriffen hatte, dass es sich um ihren Bruder Thomas handelte, bekam sie keine Luft mehr, und ihr Blutdruck fiel dramatisch ab. Ihr wurde schwarz vor Augen, dann kippte sie um.
Als sie wieder zu sich kam, kochte sie sich mit den letzten Bohnen, die sie in ihrem Küchenspind finden konnte, eine Tasse Kaffee. Nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatte, fiel ihr Blick auf den Herd, und da schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Mach Schluss mit allem, dreh den Gashahn auf!
Immer öfter ertappte sich Hermann Kappe bei dem Gedanken, dass der Friseur Thomas Bethge das bessere Los gezogen hatte: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wer «in den Sack geniest hatte», wie im Volk der Tod unter der Guillotine bezeichnet wurde, der war erlöst von aller Qual, der brauchte nicht mehr Tag für Tag zu leiden und um sein Leben wie das seiner Lieben zu bangen. Kappes Schwermut erreichte am 11. Februar 1944 ihren Höhepunkt, denn das war der Tag, an dem sein 56. Geburtstag gefeiert werden sollte.
«Was gibt es da zu feiern?», hatte er seinen alten Freund Theodor Trampe schon vor Tagen gefragt.
Der hatte gelacht. «Auch eine Trauerfeier ist eine Feier!» Während seine Frau und seine Mutter in der Küche mit den letzten Vorbereitungen zu tun hatten, saß er im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel, genoss die Ruhe vor dem Sturm und blätterte im Völkischen Beobachter, dem «Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands». Er hatte es zum Selbstschutz abonniert. Viel Erbauliches gab es nicht. Der Führer ehrt die tapfere Berliner Bevölkerung: Ritterkreuze für die Reichshaupt stadt. Gauleiter Reichsminister Dr. Goebbels hatte dem Gaustabsamtsleiter Gerhard Schach und dem Berliner Polizeipräsidenten, SA-Gruppenführer Wolf Heinrich Graf von Helldorff, das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz verliehen. Der eine war 1928 in die NSDAP eingetreten, der andere schon 1925. Kappe seufzte. Was hätte aus ihm werden können, wenn er dem Rat seines Onkels Richard Börnicke gefolgt und auch zu den Nazis gestoßen wäre … Heldenhafter erfolgreicher Widerstand gegen sowjetische Durchbruchsversuche. Kappe musste an Martin denken, seinen Neffen, der stand an der Ostfront, im Raum von Schaschkow.
Goebbels hatte Reichsminister Dr. Seyß-Inquart zum Präsidenten der Deutschen Akademie gemacht und eine große Rede geschwungen: «Die deutsche Sprache ist ein scharf geschliffenes Schwert zur geistigen Verteidigung der Nation.» Kappe dachte an seinen Kollegen Gustav Galgenberg, der so stark berlinerte, dass man es schon als Widerstand gegen Goebbels deuten konnte. Vielleicht mussten sie alle Englisch, Französisch und Russisch sprechen, wenn die