So sah sie das jedenfalls, sie die unpolitische Mutter und Ehefrau, die die Dinge aus dem Bauch heraus beurteilte und sich wenig für die raffinierten Begründungen der Politiker interessierte, die ihr verlogen erschienen und an den Haaren herbeigezogen.
Pauls Informationen bis zu diesem Zeitpunkt waren die folgenden, die er für sich selbst vor kurzem in einer Art politischen Tagebuchs handschriftlich festgehalten hatte:
‚ Als Hitler die Macht übernommen hatte, verkündete er Friedenswillen und die Fortsetzung der friedlichen Revision des Versailler Vertrages. Den Befehlshabern von Heer und Marine hingegen hatte er bereits zu diesem Zeitpunkt seine Revisionspläne für die Zukunft mitgeteilt. Die 1935 wieder eingeführte Wehrpflicht widersprach bereits den Bestimmungen von Versailles. Als er das entmilitarisierte Rheinland besetzen ließ, brach er den LocRocco-Vertrag. Vor einem Jahr marschierte er in Österreich ein. Mit dem Münchner Abkommen erreichte er die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland, was von den Alliierten mit dem Münchener Abkommen nachträglich sanktioniert wurde. Ein Jahr später marschierten die deutschen Truppen in der Rest-Tschechoslowakei ein und Hitler gründet das Protektorat ‚Böhmen und Mähren‘. Die Westmächte wollten sich dem hochgerüsteten Deutschland noch nicht entgegenstellen. Dessen wirkliche Absichten waren ihnen zum jetzigen Zeitpunkt allerdings bereits klargeworden.
Hitler wandelte das deutsche politische System in eine Ein-Parteien-Führer-Diktatur um.‘
Emma und Paul waren in den Garten gegangen und hatten sich auf den Rand ihres Regenwasserbassins gesetzt, das Paul im Jahr zuvor gebaut hatte und ihnen das Gießwasser für den Garten lieferte.
„Ich weiß“, sagte Emma leise und ruhig, „dass du einiges nachvollziehen kannst und gut findest, was Hitler macht. Du siehst die Dinge aus einer anderen Warte und bewertest die Fakten politisch. Ich möchte dich verstehen. Vielleicht bin ich zu emotional. Nenne mal die Punkte, die du als Mitglied der Partei positiv siehst und ich, der weibliche Laie, sage dir meine Meinung dazu, ja?“
„Gut“, sagte Paul, „ich muss da allerdings etwas weiter ausholen. Beginnen wir mit dem Versailler Vertrag, der Wurzel allen Übels und dessen, was heute unter Umständen begonnen hat, ein zweiter Weltkrieg. Die uns auferlegten Zahlungen waren in der beschlossenen Höhe nicht zu stemmen und hätten unsere Wirtschaft und uns umgebracht. Besonders, wenn man die Besetzung des Rheinlandes, des Zentrums der deutschen Industrie, durch französische und britische Truppen berücksichtigt. Die Metaller waren nicht mehr bereit, unter diesen entwürdigenden und behindernden Bedingungen zu arbeiten. Die Besetzung war erfolgt, weil die Deutschen mit den Reparationszahlungen in Rückstand waren. Aber sie hatten das Geld nicht. Mit dem Young-Plan, der die Bedingungen abmilderte, kamen Erleichterungen, aber immer noch Zahlungen bis 1988. ‚Versklavung der Deutschen‘ nannte Hitler das und stellte die Zahlungen ein“, sagte Paul, „und wurde auf riskante Weise vertragsbrüchig“, entgegnete Emma lakonisch.
„Hitler ergriff gleich nach der Machtübernahme Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit, im Jahre 1933 sechs Millionen Arbeitslose“, fuhr Paul fort. „Bereits 1936 war die Arbeitslosenzahl auf 1,6 Millionen gesunken. Das gelang durch den Bau von Autobahnen, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Arbeitsdienstes, zum Beispiel Aufforstung und Bodenkultivierung, Erntehilfe, Wegebauarbeiten, Gebäudeinstandsetzung, Bau von Kleinsiedlungen und Versorgungsbetrieben.“
„Die Autobahnen dienten der Kriegsvorbereitung“, sagte Emma, „waren aber wirksam zur Linderung der größten Not, die die riesige Arbeitslosigkeit verursacht hatte“, ergänzte Paul.
„Durch den Bund deutscher Mädel (BDM) und die Hitlerjugend (HJ) sorgte er für eine Körperertüchtigung der Jugend. Dem dienten auch die Jugendspiele sowie die Olympischen Spiele.“
„Er schaffte sich gesundes, kräftiges Menschenmaterial für den kommenden Krieg. Vor allem hatte er die Möglichkeit, den Nachwuchs in den unterschiedlichen Organisationen bereits früh ideologisch indoktrinieren zu können“, konterte Emma.
„Hitler ist zutiefst überzeugt, dass die germanisch-arische Rasse intelligenter sei als andere und deshalb so rein wie möglich erhalten werden sollte. Sie seien die Herrenmenschen und ausersehen, die anderen zu führen.“
„Unglaublich anmaßend, wenn du mich fragst und durch nichts bewiesen. Eine Behauptung. Klar, ich wünsche mir auch, dass die blonden, blauäugigen Menschen nicht aussterben, die dunkelhaarigen sind ohnehin in der Überzahl. Aber kein Mensch hat das Recht, eine Art Menschenzucht zu betreiben. Wir als Christen glauben schließlich, dass wir alle aus Adam und Eva hervorgegangen sind, wenn denn an dieser alttestamentarischen Geschichte überhaupt was Wahres dran sein sollte.“
„Hitler schrieb bereits in seinem Buch ‚Mein Kampf‘, dass wir ein Volk ohne ausreichend Lebensraum seien und nach Osten expandieren sollten und müssten. Diesem Ziel dienen seine Kriegsvorbereitungen, Landgewinn, etwas, was zahlreiche Führer in der Geschichte versucht haben. Denk an Alexander den Großen, Friedrich den Großen, Napoleon. Machtzuwachs, Gewinn an Ansehen und einen historischen Gedenkstein in den Geschichtsbüchern durch Landgewinn mit allem, was sich in diesem Land befindet. Die Kriege werden im Allgemeinen von denen finanziert, in deren Ländern sie stattfinden, sind demnach theoretisch kostenneutral, allerdings nur, wenn sie gewonnen werden.“
„Und das ist genau der springende Punkt: wenn sie gewonnen werden. Und wenn nicht? Bezahlen die Frauen, Kinder, Alten und Kranken die Zeche. Und die Soldaten, sprich: die Familienväter, Söhne mit ihrem Blut. Die Frauen mit ihren Kindern, ihren Alten und Kranken können später sehen, wie sie im Elend überleben. Meine Meinung zu Krieg: jeder Krieg ist ein Verbrechen, weil er zerstört, Leben und Besitz, Pläne und jegliche Moral. Ein Soldat, der Jahre im Dreck gekämpft hat wie seinerzeit vor Verdun, ist, wenn er überlebt, allzu häufig nur noch ein Schatten dessen, der er mal war. Vielleicht ist er nur körperverletzt, vielleicht invalide und nicht mehr arbeitsfähig, oft aber sind sie seelisch so zerschunden, sich selbst und ihrem Umfeld nur noch eine Zumutung. Mit allen unguten Auswirkungen auf ihre Kinder, die ein solches Unglück ertragen müssen. Von den Frauen nicht zu reden. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe sie erlebt, in dem Lungen-Sanatorium, in dem ich gearbeitet habe, diese menschlichen Wracks, die mit zerfressenen, zerfetzten Lungen aus dem Krieg zurückkamen. Viele von Anbeginn an Todeskandidaten. Deshalb: mir wäre am liebsten, wir hätten weiter unsere Reparationen bezahlt und alles gelassen, wie es war. Ich weiß, die Brüning’schen Notverordnungen während der Weimarer Republik waren schwer zu verkraften, die Kürzungen von Löhnen und Gehältern, das Ansteigen der Beiträge zur Sozialversicherung, der Steuern, das ganze Elend einer kaputten Wirtschaft, die nicht in Gang kam, die Not der Menschen. Ja, das alles hat die Menschen mürbe gemacht und bereit, einem neuen Heiland zu folgen. Und die Augen zu verschließen vor den ersten Anzeichen einer düsteren Unwetterwolke, die mit dem heutigen Tag dunkler und bedrohlicher ist als in den letzten Jahren.“
Emma war aufgewühlt. Sie hatte versucht, das alles ruhig und leise zu sagen, denn bereits seit sechs Jahren hatten sie sich angewöhnt, leise zu sprechen und darauf zu achten, dass niemand mithörte, so wie heut. Aber sie hatte sich wieder ungewollt ins viel zu Laute gesteigert.
„Die Reichsregierung erklärte 1936 die Wiederherstellung der deutschen Hoheit über die deutschen Flüsse Rhein, Donau, Elbe und Oder. Diese Flüsse waren laut Versailler Vertrag internationalisiert worden. Aber ich schlage vor, wir hören mit diesem Thema auf. Es gäbe da noch einiges. Ich hoffe, er erreicht auf anständige Weise, was er für unser Vaterland erreichen will“, sagte Paul, erschöpft und eher ungläubig den Kopf schüttelnd.
„Uns bleibt ja keine andere Wahl, als zu hoffen“, ergänzte Emma. „Was hat Luther gesagt: ‚Und wenn morgen die Welt untergeht, so will ich noch heute meinen Garten bestellen und mein Apfelbäumchen pflanzen. ‘ Wie wahr! Auch damals war Krieg, die Not groß und das Elend. Und die Menschen haben in ihrer jeweiligen kleinen Nische versucht zu überleben. Auch wir wollen