Hermine sieht aus wie eine Furie. Ihre Haare sind in Unordnung geraten. Sie ist wiederholt mit den Händen hastig durch ihre Frisur gefahren. Ihr Körper bebt vor Zorn und Anspannung.
„Ich versteh dich ja“, sagt Gustav und will Hermine beruhigen, „denk an das, was Arthur beim Abschied gesagt hat und all die glauben, die nun jubeln und aus dem Häuschen sind: ‚In acht Wochen sind wir zurück, und ihr werdet stolz auf uns sein!‘“
Hermine schaut aus dem Küchenfenster und hat wieder ihren in die Ferne weisenden Blick, als sähe sie Dinge, die andere nicht sehen: „Hoffentlich behält er Recht zusammen mit all den anderen, die es ebenso sehen. Hoffentlich.“ Ilse sieht ihre Mutter ängstlich an, Paul blickt ratlos zu ihr auf, als könne sie ihnen die aufkeimende Angst nehmen. Gustav grübelt: ‚Meine eigene uneingestandene Euphorie‘, stellt er fest, ‚hielt so lange, wie wir unter den vielen Begeisterten am Bahnhof waren. Hier, allein mit den Meinen, hat klares Denken wieder eingesetzt. Mir schwant nichts Gutes. Und Hermine hat ihren ahnungsvollen Ausdruck in den Augen, als erblickte sie bereits kommendes Unglück.‘ Ihn fröstelt, obgleich draußen eine milde Augustsonne die Landschaft in ein warmes, goldenes Licht taucht. Am 04.08.1914 erklärt Kaiser Wilhelm vor dem Reichstag in Berlin: „… uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den uns Gott gestellt hat … Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche …“
Da schon kurz nach Kriegsausbruch Lebensmittel nur noch auf Marken zu haben sind, gräbt Gustav den größten Teil des Gartens um. Nur die Bleiche, für die Wäsche benötigt, bleibt stehen und ein Stück Wiese für Ilse, Paul und Ronja. Zwei der alten Apfelbäume haben im ersten Jahr gut getragen und sie den Winter über mit frischem Obst versorgt. Er pflanzt drei Sträucher rote, zwei für schwarze Johannisbeeren, zwei Reihen Himbeeren am Zaun entlang und eine lange Reihe Brombeeren. Das umgegrabene Land dient für Kartoffeln, Gemüse und Erdbeeren. Gustav und Hermine wollen sich so weit wie möglich selbst versorgen können.
Nach und nach erweisen sich die Rationen auf Marken als völlig unzureichend, besonders für die körperlich schwer arbeitenden Menschen. Das geringe Warenangebot, bedingt durch die britische Seeblockade, die den Außenhandel erheblich beschränkt und die Einfuhr dringend benötigter Lebens- und Futtermittel anfangs erschwert, später unmöglich macht, führt schnell zu Preisanstiegen. „Der Garten ist ein großer Segen für uns“, stellt Gustav fest. Die selbst erzeugten Kartoffeln reichen zwar nicht für den ganzen Winter, aber der findige Gustav hat eine andere Möglichkeit erschlossen.
Bestimmte Baustoffe zu bekommen, wird immer schwieriger. Da die Italiener 1915 die Fronten wechseln und den Deutschen den Krieg erklären, fällt Marmor aus Italien, insbesondere der edle Carrara-Marmor, weg. Züge und Lastwagen werden immer stärker für die Kriegswirtschaft genutzt, pünktliche Warenlieferungen mehr und mehr erschwerend. Längerfristige Zahlungstermine sind wegen der steigenden Preise nicht mehr zu vertreten. Zugeständnisse an Kunden, in Raten zu zahlen, würden seinen wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Gustav versucht, erst nach Zahlung zu liefern, auch wenn ihm diese Konsequenz innerlich widerstrebt. Das auf seinem Konto eingehende Geld wird seinerseits noch am selben Tag zur Abzahlung seines Kredits in der Sparkasse verbucht. Er behält nur bar, was die Familie für die laufenden Ausgaben sofort benötigt. Bei Lieferungen an seinen Betrieb wird der Preis aufgrund des Tages-Dollar-Kurses vor 12 Uhr mittags ermittelt und ebenfalls sofort überwiesen, da der Dollar-Kurs fast täglich steigt. Gustav ermöglicht Kunden inoffiziell, einen Teil der Ware in Naturalien zu bezahlen, wenn das dem Kunden möglich und lieber ist. Einen Sack Kartoffeln oder ein paar Eier, ein Kaninchen oder ein Huhn als anteilige Bezahlung. Das ist verboten und wird nach und nach schwieriger, da die staatlichen Lebensmittel-Kontrolleure die Bestände an Vieh und die Ernteerträge ebenso kontrollieren wie die rationierten Lebensmittelvorräte in den Geschäften.
Kunden werden durch die Lebensmittelkarten an ihre Geschäfte gebunden und können so leichter überprüft werden. Da die Mengen, die abgegeben werden dürfen, immer kleiner werden und dadurch immer häufiger eingekauft werden muss, beansprucht das viel Zeit. Das erledigt weitestgehend Paul.
Er entlastet seine Eltern, soweit ihm das neben der Schule möglich ist. Er hilft dem Vater im Lager, Garten und Büro und schleppt auch die Wassermengen, die sonst Arthur getragen hätte. Er versucht Arthurs fehlende Arbeitsleistung voll auszugleichen. Er sieht diese zusätzliche Arbeit als einen Teil seiner Pflicht als Patriot. Arthur an der Kriegsfront, er an der Heimatfront. Oft ist er so müde und erschöpft, dass er fürchtet, im Unterricht einzuschlafen, redet aber mit niemandem darüber. Stark und belastbar, pflichtbewusst und zuverlässig will er sein, seinen Eltern Ehre machen und sich vor seinem Bruder nicht schämen müssen.
Die jungen und älteren Soldaten sind nicht nach acht Wochen als stolze und glückliche Sieger aus dem Krieg heimgekehrt. Im Gegenteil, der Krieg zeigt von Monat zu Monat beängstigendere Züge. Es braucht Mut und Kraft, Zeitung zu lesen.
1916 schreibt Arthur seinem Bruder einen Brief, den er unbedingt für sich behalten soll.
Die deutschen Soldaten hatten den Auftrag, Verdun anzugreifen. Es gelang nicht, Verdun im Sturm zu erobern. „… Mein Kleiner, diese Stadt, dieser Name werden in die Geschichte eingehen. Kein Mensch, der in seinem Dorf, in seiner Stadt im Frieden lebt, kann sich vorstellen, was hier los ist. Wir leben im Dreck wie die Ratten. Am Tag ist hier die Hölle. Geschütze krachen, Maschinengewehre knattern. Kugeln sirren um die Köpfe. Granaten knallen explodierend in den Boden. Menschenleiber fliegen durch hoch aufspritzenden Dreck. Teile von Menschen prasseln auf die Erde zurück. Was einst Felder, Wiesen, Äcker mit Bäumen, Sträuchern waren, ist umgepflügte, zerwühlte Mondlandschaft mit Kratern, Stacheldraht, Toten. Es stinkt nach Fäkalien, nach Blut, nach dem Inhalt zerplatzter Därme, einem blutenden Schädel, der neben dir aufschlägt, ohne Körper, nach Sprengstoffen und Pulverdampf. Kameraden schreien vor Schmerzen, getroffen von einer Granate oder Kugel, ein Arm abgerissen, nur noch mit Hautfetzen an blutigem Jackenärmel herunterhängend. Sie schreien nach ihrer Mutter, während sie im Dreck sterben und die Hosen vollgeschissen haben in entsetzlicher Todesangst. Paul, wenn ich an euch denke, erscheint es mir, als seien eine normale Zeit, ein normales Leben nur ein wundervoller Traum gewesen, als könne es für mich, für uns, niemals mehr Wirklichkeit sein. Wir leben hier ein Schweineleben, was sage ich, jedes Schwein in einem verdreckten Stall lebt humaner als wir. Wir schlafen in Bunkern unter der Erde. Auch hier stinkt es nach Urin, Blut, Fäkalien. Je nach Wetter waten wir in den Schützengräben durch Morast oder schlammiges, blutiges Wasser. Das schlimmste ist der Höllenlärm, die nicht endende Belastung der Nerven. Du findest keine Ruhe, keine Sekunde Erholung. Es geht immer so weiter, auch wenn du ganz und gar am Ende bist und nur noch wünschst, eine Granate möge dich treffen, damit dieses Hundeleben endlich aufhört. Wir beglückwünschen Verletzte, auch wenn sie Arme und Beine oder ihr Augenlicht verloren haben, weil sie hier rauskönnen, raus in ein Lazarett. Ich weiß, das klingt bestialisch und brutal. Unser Leben hier ist bestialisch und brutal! Wir sind hier keine Menschen mehr. Wir sind Material. Menschenmaterial, das verheizt wird.
Sag den Eltern, dass es mir gut geht. Nichts wird besser, wenn sie vor Kummer krank werden oder sterben. Dir sag ich: bete für mich und kämpfe brav an der Heimatfront. Ich hoffe, dass ich durchkomme. Dein Bruder Arthur.“
Nach dem Krieg wird in den Zeitungen zu lesen sein, dass vor Verdun 335.000 deutsche Soldaten und 360.000 französische Soldaten gestorben sind. Mit vielen weißen Holzkreuzen auf riesigen Helden-Friedhöfen wird man ihrer nach dem Krieg an den Helden-Gedenktagen mit pathetischen Reden gedenken. An den Denkmälern werden teure, schöne Kränze niedergelegt werden.
Paul bewahrte den Brief auf dem Boden seiner Büchertasche, damit er nicht doch eines Tages seiner Mutter in die Hände fallen könnte. Vor diesem