Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ruth Malten
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические любовные романы
Год издания: 0
isbn: 9783954888016
Скачать книгу
in einem unter den Armen zugebundenen Sack um die Wette, von der Start- zur Ziellinie. Der erste hatte seine Tüte sicher. Dann folgte der Eierlauf. Auf einem Esslöffel musste das Ei bei dem Wettlauf balanciert werden. Wer die Ziellinie mit Ei auf dem Löffel als erster erreichte, war Sieger und Gewinner einer Wundertüte. Danach durfte sich jeder sein Lieblingsspiel wünschen.

      Ilse entschied sich für ein Ballspiel, das jeweils zu zweit gegeneinander zu spielen war. An ihrer Lagerhalle hatten sie die ideale fensterlose große Fläche. Der Ball wurde auf unterschiedliche Weise gegen die Wand gespielt, beginnend mit zehnmal der ersten Figur: mit beiden Händen gegen die Wand werfen und fangen, neunmal ohne Abzusetzen mit rechts, achtmal mit links, siebenmal ‚Bete‘ mit aneinandergelegten ausgestreckten Händen, sechsmal mit runden Gebetshänden, fünfmal mit der rechten, viermal mit der linken Faust, dreimal mit der Stirn, zweimal mit dem Knie, einmal über die rechte Schulter hochgeworfen, sich umdrehen und den Ball wieder fangen. Wer den Ball fallenließ, musste ihn abgeben und beim nächsten Wechsel da weitermachen, wo er vorher den Ball hatte fallen- lassen. Die Figuren ließen sich erweitern oder schwieriger gestalten, je nach dem Können der Mitspieler.

      Das Spiel fand großen Beifall. Aber Bärbel wollte auch noch ihr Lieblingsspiel erklären.

      Sie zeichnete ein großes Rechteck mit einem abschließenden Bogen auf den Hof. Das Rechteck wurde unterteilt in acht Kästchen. Ein flacher Stein musste, auf einem Bein hopsend, mit dem Fuß jeweils weiterbefördert werden. Wer auf eine Linie trat oder den Stein auf eine Linie schob, musste an den Mitspieler abgeben. Wer als erster den Parcours durchlaufen hatte, Wendepunkt der Bogen am oberen Ende, war Sieger. Auch dieses Spiel regte den Ehrgeiz der Kinder an. Alles sah leichter aus, als es dann beim Probieren tatsächlich war.

      Da inzwischen alle ihre Wundertüten geöffnet hatten und jeder wunderschöne, bunt-leuchtende Schippelkugeln vorgefunden hatte, folgte auf Wunsch von Ulla noch das Schippeln. Ilse grub mit einer kleinen Schaufel eine kleine, runde Höhlung in den glatten Boden des Hofs, drückte sie innen und an den Rändern glatt und fest. Alle Kinder hockten nun ringsherum, auch die Jungen, und versuchten ihre Schippelkugeln der Reihe nach als erster ins Loch zu schippeln. Wer als erster alle Glaskugeln versenkt hatte, war Sieger.

      Die Jungen langweilten sich bald zwischen den Mädchen und gingen mit Arthur, der ihnen was Tolles zeigen wolle. Sie liefen zum Lager, wo in einer Ecke verborgen das alte, verrostete Herrenfahrrad ohne Kette und Gummireifen stand. Die Jungen waren kaum zu halten und beförderten das Rad auf den Hof. Jeder versuchte, ein Bein unter der Stange hindurch gesteckt, von den anderen geschoben, damit zu fahren. Es quietschte, die Metallräder ohne Schlauch und Mantel schepperten auf dem festgefahrenen Boden des Hofes, aber die Jungen fanden dieses Gefährt großartig und beschlossen, demnächst dieses Gefährt zu reparieren, zu entrosten, zu ölen und soweit flott zu machen, dass nur noch der Vater neue Schläuche und Reifen spendieren musste, was allerdings kein kleines Problem darstellte. „Aber bis dahin können wir alles machen, was nichts kostet“, entschied Arthur, der Älteste der Jungengruppe und dachte daran, auf irgendeine Weise Geld zu verdienen, vielleicht mit Zeitungaustragen. Auch der Roller musste entrostet und geölt werden. Das gäbe zwei prima Fahrzeuge.

      In diesem Stadium der Feier ging Arno mit seiner sechsjährigen Tochter Hilde zu seinem Lieferwagen, mit dem er und seine Familie gekommen waren. Er hob einen kleinen Korb heraus, mit einem rotweißkarierten Tuch bedeckt, hing sich sein Akkordeon um, ging zu den Gästen zurück und spielte einen Tusch, um die Aufmerksamkeit auf sein Mädchen zu lenken. Als sich ihnen alle Blicke zuwandten, überreichte Hilde der gleichaltrigen Ilse den Korb.

      Die beiden blonden Mädchen mit ihren Rieselhaaren und der hellen Schleife auf dem Kopf, den langen gekräuselten Röcken mit Schärpe und den Spangenschuhen glichen einander wie Zwillingsschwestern. Hilde lächelte Ilse an. Ilse war so überrascht, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, dass sie ganz ernst wurde. An ihrem Hals pochte der eilige Puls. Ihre losen Härchen, ihr Gesicht umspielend, bebten.

      Bevor sie das Tuch von dem Korb nehmen konnte, rührte sich dieses wie von Geisterhand bewegt, und eine schwarze, feuchtglänzende Nase schob sich hervor, das rotweißkarierte Tuch über dem Kopf wie der Wolf in Großmutters Bett im Märchen. Unter der Nase glucksten kleine klagende Stoßseufzer hervor.

      „Unser Geschenk für eure Familie“, sagte Hilde mit heller Stimme. „Das Geschenk heißt Ronja.“ Ilse stellte das Körbchen auf den Boden, nahm Ronja behutsam heraus und konnte nicht verhindern, dass ihr vor Freude Tränen über beide Wangen liefen. Sie legte sich Ronja in die Armbeuge, streichelte mit zwei Fingern behutsam das Hunde-Baby, drückte ihr Gesicht gegen die Hundenase und küsste sie. Dann drehte sie sich einmal in die Runde, damit jeder sehen konnte, was sie auf dem Arm hielt und lief zu Papa und Mama; Paul und Arthur waren herbeigeeilt. Die anderen Kinder kamen. Jeder wollte das kleine Tier anschauen und einmal anfassen. „Ronja wird mal viel größer sein als du jetzt bist“, erläuterte Arno, „ein stattliches Riesenschnauzer-Mädchen wird das mal. Sie wird euer Haus bewachen und dafür sorgen, dass jeder Tag im Jahr ein fröhlicher Hundstag wird.“

      Arno setzte sich auf eine umgedrehte Kiste vor dem Haus und fing an, auf seinem Akkordeon zu spielen. Er spielte: „ Land der dunklen Wälder “, und die Besucher, zuerst nur summend, stimmten nach und nach in ihr Heimatlied ein. Um seinem Freund und dessen Familie eine besondere Freude zu machen, spielte er noch „ Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein “, das Lied, das Gustav, Hermine und die Kinder zusammen mit ihren neuen Landsleuten in Breslau kennen- und liebengelernt hatten. Einige der ostpreußischen Gäste kannten es und sangen mit. Zuletzt folgte „ Guten Abend, gute Nacht “, und die Gäste wussten, das Ende einer wunderschönen Einstandsfeier ihrer neuen Mitbürger war gekommen, und man verabschiedete sich.

      Die Kinder hatten sich um Ilse und den Hundewelpen auf die Wiese gesetzt. Ronja wackelte im Kreis umher, den die Kinder mit ihren Körpern bildeten und genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Ab und zu kippte sie um und fiel auf ihr weiches, pummeliges Hinterteil. Schnell waren Kinderhände da, sie wieder auf ihre Beine zu stellen. Ronja japste, gickste, gluckste, schnaufte, sabberte, während sie neugierig die Knie der Kinder, ihre Hände und Kleidung beschnupperte und beschlabberte. Den Gastkindern fiel es schwer, nun mit ihren Eltern nach Hause gehen zu sollen. Beim Verabschieden sagten alle, sie würden wiederkommen, um mit Ronja zu spielen und auch mit den Kindern zusammen die Spiele zu machen, die sie heute kennengelernt hatten.

      Gustav und Hermine saßen noch eine Weile in ihrer Wohnküche, Arme und Beine müde und entspannt von sich gestreckt, hinter ihnen Berge beschmutzter Teller und Gläser, von Besteck und Schüsseln. „Hat alles Zeit bis morgen“, stellte Hermine seelenruhig fest.

      „Heut ist unser Anwesen zum Leben erwacht“, bemerkte Gustav. „Die Kinder haben allem Leben eingehaucht, dem Tor der Lagerhalle mit ihrem Ball, dem alten Fahrrad und Roller, dem Hof mit den Schippel-Kugeln, dem aufgemalten Rechteck für das Hoppe-Kästel-Spiel und der Wiese, auf der sie mit Hundebaby Ronja gespielt haben“, sagte Hermine verträumt, Gustav anlächelnd.

      Ronja lag eingerollt auf Hermines Schoß, war sanft eingeschlummert, nachdem sie vorher Haferflocken mit Milch geschleckt hatte und gab im Schlaf hin und wieder traumtrunken einen kinderhellen, gicksenden Babybeller von sich, bei dem ihr Pummelkörper bebte. In dieser Nacht würde sie zum ersten Mal ohne die Nestwärme und den vertrauten Geruch ihrer Mama Manja und ihrer Geschwister sein, schien sich aber in ihrem neuen Zuhause schon wohlzufühlen. „Gut wird sie es bei uns haben“, sagte Gustav liebevoll, und Hermine nickte ihm beipflichtend zu.

      Auch die Kinder hatten erste Kontakte geknüpft. Ronja würde ihren Teil beitragen, dass die neuen Freunde gern wiederkämen.

      Der zweite Schritt in die neue Zeit mit neuen Menschen und vierbeinigem Familien-Zuwachs war getan, dachte der Familienvater, nahm Hermines Hand und ging mit ihr schlafen. Satt waren sie, satt von Zufriedenheit und Freude und redlich müde.

      7. Kapitel

       Extrablätter

       1914

      In der vorigen Woche beging die Familie Mutters vierzigsten Geburtstag. Schön war’s, entsann sich Hermine.