Der Staat versucht, durch Geldvermehrung Investitionen anzukurbeln. Diese Geldvermehrung führt nach und nach zu einem Verfall des Geldwerts, der Inflation.
Spekulanten kaufen Vermögenswerte, Häuser, Grundstücke und werden reich. Sparer verlieren nach und nach ihre Ersparnisse durch Geldentwertung und werden arm.
Im Jahr 1918 beträgt der Wertverlust auf 100 Mark gegenüber dem Vorjahr 26 Mark, die Mark ist also gegenüber 1917 noch 74 Pfennig wert, 1921 noch 35 Pfennig. Wer einen Dollar kaufen will, bezahlt 1918 vier Reichsmark und zwanzig Pfennige. 1921 kostet ein einziger Dollar bereits 270 Mark. Im Jahr 1923 wird ein einzelner Dollar 4,21 Billionen Reichsmark kosten, die Mark wertloses Papier sein, Papier zum Ofen-Anzünden, Spielgeld für Kinder!
Theos Chef lässt seine Mitarbeiter kommen. Sie treffen sich eines Morgens im „Zuschnitt“.
„Kollegen“, beginnt der Chef, „noch seht ihr an den Wänden die Häute hängen, die gegerbten und gefärbten Leder. Noch habt ihr hier den altbekannten Ledergeruch um euch und in der Nase. Ihr lest Zeitung und wisst, was ‚Seeblockade der Engländer‘ heißt. Ich kann das meiste Material, das wir bisher aus dem Ausland bezogen haben, nicht mehr beschaffen. Import-Verbot für alle ausländischen Waren heißt das. Es gibt zwei Möglichkeiten: den Betrieb schließen oder verlagern. Um es kurz zu machen, ich werde in die Schweiz verlagern.“
Fendler, der Chef, steht am Kopf des langen Zuschneide-Tisches, neigt sich leicht nach vorn, fährt sich mit den Händen durch die Haare, stützt sich mit beiden Fäusten auf den Tisch und schaut seine zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Reihe nach an. Seine Leute stehen hohlwangig, mit grauen Gesichtern wie versteinert vor ihm, Arme und Hände herab hängend wie nutzlos gewordene Werkzeuge. Es ist grabesstill im Raum.
„Ich weiß. Das klingt schlimm“, bemerkt Fendler abwartend. „Aber es gibt Hoffnung: Wer mitgehen will, kann mitgehen. Drei Häuser für sechs Familien werden in der Nähe des neuen Betriebsgeländes bereitstehen. Ja, ich war da, hab’ mir alles angesehen. Die Bedingungen sind gut. Die Kinder können dort die Schule besuchen. Die Schweizer sprechen etwas merkwürdig und sind schwer zu verstehen, Schwiezer Dütsch, Schweizer Deutsch, aber das lässt sich lernen. Natürlich müsst ihr erst mal drüber schlafen und zu Hause alles bereden. Dennoch vorab: Wer von euch würde voraussichtlich mitgehen?“
Eine große Bewegung entstand unter den Frauen und wenigen Männern. Viele Männer der hier anwesenden Frauen, zuvor bejubelte Soldaten in schneidigen Uniformen, waren nun, verunstaltet und demoralisiert, von der Front heimgekehrt, den Frauen und Kindern zu Hause oft eine Last. Sie fanden keinen Platz mehr im zivilen Leben. Ruhm und Ehre für ihre beschädigten Körper und Seelen blieben aus. Sie waren mit einzubeziehen.
Alle Finger gingen nach oben.
Als im März 1919 Theo mit Elise, Harald, der dreijährigen Minna und dem Baby Udo in die Schweiz umzogen, waren einige Familien schon dort und erwarteten sie. So hörten sie neben dem neuen Schwiezer Dütsch zu ihrem Trost auch den Dialekt ihrer schlesischen Heimat.
Die dreijährige Minna glaubte, sterben zu müssen, als es hieß, sie müsse sich von ihrer geliebten Emma trennen. Als die Familie in Kreuzlingen das Schiff bestieg, tanzte sie auf dem Schiffsdeck und trällerte fröhliche Lieder. Die Leute hatten Freude an diesem munteren kleinen Mädchen.
Später erzählte sie ihren eigenen Kindern und Enkeln, sie tanzte und sang gegen ihren Schmerz, ihre grenzenlose Verzweiflung an. Sie war so unglücklich, dass sich auch später noch bei der Erzählung dieses Ereignisses ihre Augen mit Tränen füllten. Ebenso litt Emma. Am ersten Tag nach dem Wegzug ihrer Familie fand sie sich in der leeren Wohnung wieder. „Ich hatte nicht einmal mehr einen Spiegel“, erzählte sie. „Ich hatte mein Bett, meine Zither und meine Laute.“ Auch diese Erinnerung trieb ihr noch nach Jahrzehnten Tränen in die Augen.
Ihr wurde bewusst, mit dem Wegzug ihrer Familie hatten ihre Kindheit und Jugend ihr Ende gefunden.
Aber das Leben würde weitergehen, wenngleich das Wie im Augenblick noch völlig im Dunklen lag.
5. Kapitel
Gustav möchte sich selbständig machen
Eine Woge von Glück durchströmte Gustav auf dieser Fahrt in seinem ersten eigenen Kraftfahrzeug. Die Strecke hatte er in seinem Atlas immer und immer wieder studiert. Wie werden die Wege sein? Und ein Sommergewitter mit Sturm und Hagel wünsche ich mir auch nicht, erwog er flüchtig. Er war angespannter, als ihm lieb war. Andererseits fühlte er sich wie ein Ordensritter auf dem Weg in den hohen Norden. Aber ich habe mehr Pferdestärken und komme schneller voran, dachte er frohgemut und straffte stolz seine Brust. Sein Meister hatte ihm eine Woche Zeit gegeben für sein ostpreußisches Abenteuer. ‚Gustav, jetzt zeig, was in dir steckt. Blamier dich nicht. Deine Familie will stolz auf dich sein‘, feuerte er ihn an.
Während er über die Landstraßen ratterte, sah er in Gedanken seine Familie beim Abschied, wie sie hinter ihm hergewinkt hatten: Hermine mehr sorgenvoll als zuversichtlich. Paul enttäuscht, weil er Papa nicht missen mochte. Arthur missgelaunt, nicht mitreisen zu dürfen. Und Ilse traurig, eine Woche lang nicht auf Papas Schultern Huckepack reiten zu können.
Sein Auto machte viel Lärm. Neben dem Knattern des Motors, ähnlich der großen Nähmaschine seiner Mutter, rumpelten die Räder durch Bodenwellen oder Schlaglöcher. Seine Sitzfläche machte alle Hopser mit. Ein bisschen wie auf dem Pferdefuhrwerk von Onkel Kunibert, dem Wagen mit den eisenbeschlagenen Holzrädern, erinnerte sich Gustav. Steine schlugen gegen die Bodenfläche. Sand rieselte schmirgelnd unter die Kotflügel. Gustav war von den neuartigen Lauten verunsichert. ‚Ob das alles so seine Ordnung hat, was ich höre und spüre?‘, fragte er sich wiederholt. Oder nahte die erste Panne? Sein Lieferant hatte ihm vorgeführt, wie und mit welchem Werkzeug ein Reifen zu wechseln sei. Als Handwerker wusste er, dass erst das praktische Tun die Sicherheit bringt. Und was, wenn der Sprit ausgeht, die mitgenommene Kanne nicht ausreicht und weit und breit keine Tankmöglichkeit in Sicht? Gustav schalt sich einen Jammerlappen und musste über diesen Ausdruck lachen. ‚Wenn der Topp aber nu een Loch hat, lieber Heinrich, lieber Heinrich‘ , würde sein Vater jetzt vergnüglich singen, wäre er mit von der Partie!
Er fuhr vorbei an weitläufigen, frischgrünen Getreidefeldern, üppig blühendem Mohn, Margueriten und Kornblumen an den Feldrainen. Die Linden und Kastanien der Alleen waren duftig ausstaffiert vom hauchzarten, hellen Frühlingsgrün ihrer jungen Blätter. Hoch stand das Gras der Böschungen zu beiden Seiten der Fahrbahn, durchwirkt von weißen Schleiern blühenden Kerbels. Hin und wieder passierte er einen einzelnen Weißdornstrauch, wie eine Braut in Weiß gehüllt oder eine ganze Gruppe solcher weiß gewandeter Weißdornbräute, einen sanft ansteigenden Wiesenhügel gefällig auflockernd. Auf den Weiden, eingefasst von Zäunen, die Drähte an dicken Holzpfosten mit Krampen befestigt, weideten Herden von Stuten mit ihren Fohlen. Der Geruch der Tiere, der durch sein geöffnetes Wagenfenster zu ihm drang, mischte sich mit dem ungewohnten Mief seiner Benzinkutsche. Auf anderen Wiesen grasten braune oder schwarzbunte Kühe, zwischen ihnen hoheitsvoll stolzierende Störche, mit dem Kopf gewichtig nickend, den langen roten Schnabel auf der Suche nach Fröschen geübt als Werkzeug nutzend. Hin und wieder erspähte Gustav einen Fuchs, unberührt von dem Knattern seines Autos bei seinem Mäusesprung oder behutsam geduckt durch eine Wiese schnürend. Was für wohltuende Landlaute, dachte Gustav, nun seit Jahren das unruhige Leben der Großstadt Breslau gewöhnt: das behagliche Brummen der Kühe, das friedliche Klappern der Storchenschnäbel und der mannigfache Gesang der Vögel. Die melodischen Stimmen der Amseln, den zwitschernd-flötenden Gesang der Grasmücken und deren warnendes ‚Teck-Teck‘ kannte er von seinem Heimatdorf in Sachsen.
Dieses ostdeutsche Land habe die Kraft, das ganze deutsche Reich mit seinen 62 Millionen Einwohnern ausreichend zu ernähren, hatte