Saskia. Inge Nedwed. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inge Nedwed
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783942401272
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kümmern, nächstes Wochenende, verspricht Merle.

      Oma streichelt Merles Hand, ich weiß ja, dass du daran denkst. Ich hätte dich nicht erinnern sollen.

      Der Schmerz sitzt auch nach vielen Jahren noch tief. Schweigend sehen sich die Frauen an. Die eine vermisst die Tochter, die andere die Mutter.

      Meine kleine Karla war ein liebes Mädchen. Im Krieg ist sie geboren, in der schlechten Zeit. Opa war in Russland. Ich wünsche mir einen Karl, schrieb er von der Front. Aus Karl wurde Karla, er hat seine Tochter nie gesehen. Merle kennt die alten Geschichten, trotzdem hört sie Oma immer wieder gern zu.

      Du hast viel von deinem Opa, Familie muss zusammenhalten, sagt Oma, als Merle sich verabschiedet und eine gute Nacht wünscht.

      Merle hat es sich auf der Couch bequem gemacht. Familie, Mutters Grab, die ersten Jahre haben sie und Saskia es zusammen gepflegt. Für die Bepflanzung hatte Saskia ausgefallene Ideen.

      Stiefmütterchen kommen mir nicht aufs Grab, die hat doch jeder. Unsere Mutter würde sich darüber nicht freuen.

      An diesem Ort fühlten sich die Schwestern verbunden. Sie sprachen über ihre Kindheit, verrieten sich ihre Gefühle, teilten Sorgen und Ängste. An diesem Ort gab es keine Tabus, selbst über ihre Männer redeten sie. Mutter hört uns zu, unsere Gespräche werden ihr gefallen, sie wird immer bei uns sein, darin waren sich die beiden sicher.

      Hat Saskia das alles vergessen? Dass sie mit Oma nicht klarkam, kann Merle verstehen, aber warum hat sie ihren Sohn im Stich gelassen? Kinder verlassen ihre Eltern, das ist normal, sie müssen sich abnabeln, wenn sie reif dafür sind. Aber Eltern verlassen doch nicht ihre Kinder! In den Nachrichten sucht Merle Ablenkung. Unwetterwarnungen, orkanartige Böen mit Spitzengeschwindigkeiten bis zu 120 Stundenkilometern, Schneefälle in den Kammlagen. Keinen Hund jagt man bei diesem Wetter auf die Straße. Auf der Treppe poltert es. Uli, endlich. Er schimpft, alles pitschnass.

      Merle nimmt ihm die Sachen ab. Ich koche dir einen Tee.

      Du könntest mir morgen eine Thermoskanne voll mitgegeben. Uli zieht sich die Schuhe aus. Ich werde wahrscheinlich auch nächstes Wochenende arbeiten müssen.

      Was, schon wieder?

      Das Wetter, wir kommen auf der Baustelle einfach nicht voran.

      In der Küche bereitet Merle für Uli das Abendbrot. Uli sitzt am Tisch und überfliegt die Zeitung. Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Krankenkassenbeitrags, ich will mich heute nicht mehr aufregen. Er legt die Zeitung zur Seite. Wie kommt Tobi morgen zurück, fragt er.

      Darum brauchen wir uns nicht zu kümmern, er will den Bus nehmen.

      Uli runzelt die Stirn. Hoffentlich denkt Tobi an die Schule. Ich sehe ihn nie lernen. Die Abiturprüfungen sind nicht mehr weit.

      Tobi macht das schon. Lass den Kindern ihren Spaß. Ich freue mich, dass sie sich so gut verstehen.

      Und wie läuft es bei Matti?

      Erstaunlich gut, jetzt, wo er seine eigene Wohnung hat. Tobi will ihm helfen, ein Hochbett zu bauen. Er hat sich aus deiner Werkstatt Werkzeug mitgenommen.

      Hoffentlich bringt er es wieder zurück!

      Ich habe heute mit Mattis Ausbilder gesprochen, erzählt Merle. Ihre Augen strahlen. Kein unentschuldigtes Fehlen, immer pünktlich. Sie haben ihn zum Klassensprecher gewählt. Er kann über Matti nichts Negatives berichten.

      Na, ich weiß nicht. Koch, Gemüse putzen, im Kochtopf rumrühren, das ist doch nichts für den Jungen, in dem steckt doch mehr.

      Fang nicht wieder an, beschwert sich Merle. Der Junge muss Freude an seinem Beruf haben. Du hast doch auch klein angefangen. Und wenn er seine Lehre schafft, ist das schon ein großer Erfolg. Danach kann er sich immer noch entscheiden, vielleicht für die Hotelfachschule. Im Moment träumt er von seiner eigenen Gaststätte, man darf ihm die Träume nicht nehmen.

      Merle sucht im Küchenschrank nach der Thermoskanne. Uli gähnt, ich mach mich gleich ins Bett, bin total geschafft.

      Aufgestützt auf seine großen Hände, die auf der Tischplatte ruhen, erhebt er sich. Der Tisch knarrt. Merle kann nicht hinsehen, der arme Tisch, wieder einmal hält er der Belastung stand. Merle spürt Ulis Hände auf ihren Wangen.

      Bis morgen früh, sagt er. Stellst du mir den Wecker auf 5.00 Uhr?

      Nur wenn ich den Weckdienst bezahlt bekomme. Fordernd zeigt Merle mit dem Zeigefinger auf ihre Wange. Uli drückt ihr einen Kuss auf die vorgegebene Stelle. Schlaf gut, sagt Merle und streichelt seine Hände. Sie sind rau, die Haut ist aufgesprungen. Die kalte Jahreszeit verschont auch sie nicht. Merle liebt seine Hände. Sie sind harte Arbeit und festes Zupacken gewöhnt und können trotzdem zärtlich sein. Mit verächtlichem Blick straft sie die Hände mancher Kollegen im Büro. Lange, dünne Finger. Lange Nägel, sorgfältig mit Feile in Form gebracht. Hände mit leichenblasser Haut, durchzogen von hervortretenden dunkelblauen Blutbahnen. Bleistifthalter hat Merle diese Hände getauft. Solche auf ihren Wangen? Merle schüttelt sich. Sie räumt das herumstehende Geschirr in die Spülmaschine und verlässt die Küche.

      Im Wohnzimmer liegt Merle wieder auf der Couch. Die Fernbedienung gehört heute ihr. Sie drückt die Kanäle durch. Da habe ich freie Auswahl, brauche mir nicht Ulis Fußball anzusehen, und dann kommt nur Nonsens. Auf Omas Quizsendungen hat sie auch keine Lust. Als sie in der Fernsehzeitung blättert, klingelt das Telefon. Um diese Zeit, das können nur die Kinder sein. Merle nimmt den Hörer ab. Eine unbekannte Frauenstimme meldet sich.

      Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Meyer, ich bin die Nachbarin Ihrer Schwester.

      Merle ist erschrocken, hat sie richtig verstanden, Saskias Nachbarin?

      Die Frau ist aufgeregt. Ihr Redeschwall lässt Merles zögerndes Fragen ersticken. Merle versteht nur Rettungsdienst, Katholisches Krankenhaus. Hund und Wohnungsschlüssel sind bei ihr.

      Katholisches Krankenhaus? Gegen dieses Krankenhaus ist Merle allergisch. Mutter haben sie dort verloren, krampfhaft hält sie den Hörer in der Hand. Danke, sagt sie. Die Frau am anderen Ende hat lange aufgelegt. Merle geht zurück ins Wohnzimmer. Ihre Hände zittern. Was soll das, ist bestimmt nur wieder so ein Trick von Saskia. Mit wem kann ich sprechen? Uli munter machen, Matti anrufen? Oma? Alles sinnlos! Merle versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Und warum soll sie sich um alles kümmern, hat Saskia ihr nicht schon genug aufgeladen?

      Bleib ruhig, denkt Merle. Morgen Vormittag kann ich ins Krankenhaus fahren, sehen, was los ist, und dann entscheiden.

      Merle liegt im Bett. Sie kann nicht einschlafen. Der Sturm wütet unverändert. Er misst seine Kraft an der Giebelwand, hinter der das Schlafzimmer liegt. Die Wand bebt, hält aus und hält aus. Ein dumpfes Krachen. Merle lauscht, weiter weg, nicht vor unserem Haus. Ein kaputtes Dach, das fehlte jetzt noch! Das Licht der Straßenlaterne scheint ins Schlafzimmer. Uli hat die Rollläden nicht geschlossen. Merle hat keine Lust, noch einmal aufzustehen. Der Lichtschein streift Ulis Gesicht. Er schläft fest. Sein Atem ist gleichmäßig, ab und zu ein kleiner Schnaufer. Zum Glück schnarcht er nicht. Soll sie ihm morgen früh von dem Anruf erzählen? Er wird sich aufregen, das macht er immer, wenn es um Saskia geht. Vielleicht ist mit Saskia wirklich etwas Ernstes, erst jetzt werden ihr die aufgeregten Worte der Nachbarin bewusst. Warum kümmert sich Saskias Jan nicht?

      Merle bekommt eine Schwester

      Merle ist ein Schulkind und besucht die vierte Klasse. Nach Schulschluss hat sie es nie eilig. Sie geht gern in die Schule und nach dem Unterricht bummelt sie noch viel lieber durch das Dorf. Einen Hort, wie ihn die Kinder in der Stadt besuchen, gibt es nicht. Merle braucht auch keinen, ihr ist es nie langweilig. Sie verbringt die Nachmittage bei Mutter im Kindergarten oder bei Oma in der Poststelle. Wohin sie geht, das entscheidet sie erst auf dem Weg. Da gibt es immer etwas zu entdecken. Die Entenmutter schwimmt mit ihren Küken im Dorfteich. Oma darf nicht wissen, dass sie dort ihr Frühstücksbrot verfüttert. Im kleinen Laden, gleich gegenüber der Schule, kann man bei dem netten Verkäufer Bonbons erhaschen.