Als wäre ein Leben nichts als Kalkül.
Er
wartet.
Inmitten der
kalten, trostlosen
Winterwelt der Seelen,
in der eisig erfriert die Hand.
Ewiger Winter muss es doch noch nicht bleiben:
Er wartet,
heute, hier und
jetzt und immer
noch auf Dich.
PETRA PIATER
Vorwort
Die ersten Textmanuskripte für ein Weihnachtsbuch werden in der Regel am Beginn eines Jahres geschrieben, und die letzten Geschichten trudeln dann um die Osterzeit herum beim Herausgeber ein. Der Text einer von mir sehr geschätzten Autorin für dieses Buch landete in der »Karwoche«, in der Woche vor Ostern, in meinem E-Mail-Posteingang. Verbunden mit »einem herzlichen Gruß aus Essen mit Segenswünschen für diese geheimnisvollste Woche des Glaubens«.
Die Umschreibung »geheimnisvollste Woche des Glaubens« für die Tage, die sich um den Karfreitag und Ostern gruppieren, hatte ich so noch nicht vernommen. Aber sie gefiel mir sofort, weil sie eine Wahrheit über den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus zum Ausdruck bringt: Trotz vieler Erklärungen in der Bibel bleibt diesen Ereignissen immer ein Geheimnis anhaften.
Doch diese »geheimnisvollste Woche des Glaubens« wäre nicht möglich ohne eine weitere geheimnisvolle Zeit im Jahr: Die Advents- und Weihnachtszeit. Die »zweitgeheimnisvollsten Wochen des Glaubens« vielleicht? Eigentlich trifft es das nicht so ganz. Denn die Advents- und Weihnachtszeit ist nicht weniger geheimnisvoll als die Osterzeit. Vielleicht könnte man besser sagen: der »geheimnisvollste Monat des Glaubens« – eine Jungfrau wird schwanger, in ihrem Baby Jesus wird Gott Mensch, der Himmel berührt die Erde. Einfach eine »Weihnachtswundernacht«.
Und diese Weihnachtswundernacht sorgt seit über 2000 Jahren für so manche wundersame Situation und (Lebens-)Geschichte. Was in und durch so eine Wundernacht alles passieren kann, darüber haben wieder 24 Autorinnen und Autoren Geschichten geschrieben. Fiktive Geschichten meist, dazu einige persönlich erlebte Storys. Zum zweiten Mal. Denn ein kleines Weihnachtswunder war es für mich als Herausgeber auch, dass der erste Band der »Weihnachtswundernacht« 2012 bis zum Weihnachtsfest fast vergriffen war. Eine echte Überraschung, die mich und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Brendow Verlages motiviert hat, einen zweiten Band auf den Weg zu bringen. Viele Autorinnen und Autoren, die am 1. Band mitgewirkt haben, ließen sich auch für diesen 2. Band, den Sie nun in den Händen halten, tolle neue Geschichten einfallen. Auch einige »Neue« ließen sich motivieren, dieses Mal mit dabei zu sein. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die mitgemacht haben und die sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln auf literarischem Wege begegnen.
Ihnen als Leserin und als Leser wünsche ich wieder anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch die Advents- und Weihnachtszeit. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit und mindestens ein echtes Weihnachtswunder.
THOMAS KLAPPSTEIN
1. Dezember
Wirklich in Bethlehem
Die Idee, Weihnachten in Bethlehem zu feiern, war ihr im vergangenen Jahr gekommen. Am Heiligen Abend war der Schnee plötzlich in dicken weißen Flocken gefallen und hatte alles mit Weiß bedeckt. Sie hatte am Fenster gestanden und fasziniert zugesehen, wie die Welt heller geworden war. Und mit dem Schnee war die Frage aufgetaucht, ob es im Stall damals eigentlich auch kalt gewesen war. Ob die Bilder stimmten, die die Hirten am Feuer und mit Wolldecken zeigten. Der Atem der Tiere an der Krippe? Maria, die sich in ein warmes Tuch hüllte? Sie hatte den Bildern aus ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und ihre Frage am Ende so auf den Punkt gebracht: Hatte das Jesuskind nun gefroren oder geschwitzt?
Niemand in ihrem Umfeld hatte ihre Frage überzeugend beantworten können. »Ich war doch noch nie da«, hatte ihr Vater nur gesagt. Ein paar kleine Ausflüge mit dem Laptop hatten ihr zwar schnell ein paar Informationen geliefert: dass es im August sehr heiß war in Israel und es im Dezember nachts kalt werden konnte, Bethlehem aber von einem deutschen Winter weit entfernt war. Doch sie hatte gemerkt, dass ihr solche Fakten nicht mehr reichten. Die Idee einer Reise nach Bethlehem hatte sie längst in ihren Bann gezogen. Sie wollte es selbst erleben. Den Sternenhimmel sehen. Den Winter in Bethlehem erleben. Weihnachten dort feiern, wo alles angefangen hatte.
Und jetzt? Sie hatte die Warnungen in den Wind geschlagen. Die Ängste ihrer Mutter ignoriert. »Das Land ist gefährlich. Politisch unsicher. Warum musst du dir ausgerechnet so ein Ziel aussuchen? Denk doch auch an uns.« Sie hatte versprochen, vorsichtig zu sein, über die Nachrichten im Fernsehen hinweggehört und irgendwann gar nicht mehr eingeschaltet. Sie hatte einen Flug gebucht und einen Rückflug drei Wochen später. Einen Reiseführer gekauft. Ein Zimmer in einem der vielen Gästehäuser gebucht. Ihren Rucksack gepackt. Und war abgereist.
Zum wiederholten Mal kamen ihr die Tränen. Sie war gut gelandet. Das Barometer am Flughafen in Tel Aviv hatte um zehn Uhr morgens vierzehn Grad gezeigt. Der Himmel war blau. »Welcome to the Holy Land«, hatte es überall geheißen, und sie hatte den Eindruck, etwas Besonderes zu erleben. Sie war zunächst mit einem Sammel-Taxi nach Jerusalem gefahren, zusammen mit den unterschiedlichsten Typen: orthodoxen Juden, Arabern, Touristen. Von dort aus hatte sie einen Bus nach Bethlehem genommen. Romantisch oder weihnachtlich hatte es keine Sekunde lang gewirkt. Sondern abgeschottet. Verlassen. Vergessen. Staubig. Öffentliche Plätze und Durchgänge zwischen den Häuserblocks waren teilweise abgesperrt und wurden von Polizisten kontrolliert. Nach ein paar Stunden schon hatte sie zum ersten Mal gedacht, dass es ein Fehler gewesen war, hierhergekommen zu sein.
In ihrer Unterkunft war sie der einzige Gast in der ersten Etage. Am Morgen beim Frühstück traf sie manchmal ein paar andere Touristen. Ihre Gastgeber erzählten ihr, wie es gewesen war, bevor die Mauer gebaut worden war. »Ausgebucht waren wir. Zu dieser Zeit im Jahr immer. Advent und Weihnachten machten wir gute Geschäfte.« Sie boten ihr Tee an und Feigenkekse und unterhielten sich gerne mit ihr. Angela und John hätten ihre Eltern sein können. Sie fühlte sich sicher bei ihnen. Sie gaben ihr Tipps und schickten sie zu Josef in die Werkstatt, zu Haruns Olivengeschäft, zu Ibrahims Restaurant und gaben ihr die Visitenkarte von einem Taxifahrer.
Sie hatte ein paar Mal die Geburtskirche besucht und in Cafés Falafel und Hummus gegessen. Sie hatte Christen, Muslime und Juden kennengelernt. Sie war zwei Mal nach Jerusalem gefahren, um die heilige Stadt zu erkunden, am Grenzübergang war man immer freundlich zu ihr gewesen. In Bethlehem war sie stundenlang durch die vielen Souvenir-Läden gegangen. Dabei hatte sie Josef kennengelernt und ihm beim Schnitzen von Krippenfiguren zugesehen. Er hatte früher einmal an die zwanzig Angestellte gehabt. Jetzt war er allein im Laden und machte gerade einmal so viel Umsatz, dass es für seine eigene kleine Familie reichte. Warum war sie hier?
Letzte Woche hatte sie Olivenöl gekauft, und der Besitzer des kleinen Ladens und seine Frau hatten ihr frischgebackenes Brot angeboten, dazu Salz und Öl zum Probieren. Sie hatten eine Tochter, die zwanzig war wie sie und gerade in den USA studierte, morgen aber für die Feiertage nach Hause kommen würde. Sie fragte, hörte interessiert zu. »Einige unserer Olivenbäume stehen hinter dem großen Zaun, abgeschnitten von uns. Andere sind weiter zugänglich. Wenn du magst, gehen wir einmal hin. Nach dem Fest, dann ist es nicht so gefährlich.« In einer Ecke des kleinen Shops hatten sie stundenlang zusammen gesessen und erzählt und viel über Traditionen gesprochen. Als sie immer mehr Fragen gestellt hatte, weil sie wirklich wissen