Er verließ China unter Protest und weinte ganz offen. Judy war glücklich. Sie wollte das normale Leben eines amerikanischen Mädchens, sagte sie laut. Daniel hatte kein Verlangen nach dem normalen Leben eines amerikanischen Jungen, das er sich als Titelseite der Saturday Evening Post vorstellte, ein sommersprossiger Dorfbub mit einer Angel. Genauso wenig sehnte er sich nach den Prügeleien mit italienischen und polnischen Bengels auf den umkämpften Straßen der Bronx.
Er besuchte das City College. Der politische Umbruch faszinierte ihn, wie es die Straßen von Schanghai getan hatten. Er ging zu den Versammlungen von Splittergruppen, schlenderte durch den Basar der Ideen, konnte sich mit keiner identifizieren, war aber guter Hoffnung, dass irgendeine Ideologie ihn zum Engagement verlocken würde. Er wohnte zu Hause und fuhr täglich zum College, obwohl er bei seinen Eltern, denen er sich seit Jahren nicht mehr anvertraut hatte, keine Ruhe fand. Er sah sie als enge, naive, liebe, aber beschränkte Menschen. Sie hatten sich den Kopf stets über Überlebensstrategien zerbrechen müssen. Er versprach sich ganz andere Optionen. Er war ungern mit Haskel zusammen, der jetzt in den klinischen Semestern war und von seiner Mutter bedient wurde wie von einer Magd. Jeder Bruder fand den anderen verachtenswert.
Dienstags und mittwochs fuhr er mit der Stadtbahn zur Upper West Side, wo es eine kleine chinesische Gemeinde von der Mittelküste gab. Dort nahm er Unterricht bei dem Besitzer des Shanghai Star, in einem kleinen Büro über dem Restaurant. Dienstags war die Umgangssprache dran. Pao Chi war ein kahler, großgewachsener und schwergewichtiger Mann, doch seine Stimme war sanft und melodiös. Er redete gern über den Taoismus. Mittwochs studierten sie die Schriftzeichen. Gleich nach dem amerikanischen Neujahr erlaubte ihm Mr. Pao, die Kalligrafie auf einer Speisekarte zu machen.
Seine Familie missbilligte seine Vernarrtheit in alles Chinesische. Sein Vater, seine Mutter und seine Schwester Judy hatten in China gelebt wie eine Katzenfamilie, die auf einem Baumstamm in einem Bach hockt und bemüht ist, nicht nass zu werden, nicht in das vorbeifließende Leben hineingezogen zu werden. Daniel hatte vor, zu seinem Onkel Nat zurückzukehren, der China so liebte wie er. Das war der Traum, nach dem er sich verzehrte.
Er verliebte sich in eine Trotzkistin und gab sich große Mühe, auch Trotzkist zu werden, denn ihr Körper war seidenweich, und sie hatte ein warmes, aufreizendes Lachen und einen klaren, nüchternen Verstand, mit dem er gern die Klingen kreuzte. Sie genoss die Streitgespräche nicht so sehr wie er und gab ihn für einen auf, dessen politische Überzeugungen stärker waren und dessen Verlangen ebenso stark schien. Er erfuhr, dass die Liebe für ihn wie ein Feuerwerk war, Hitze und Licht, doch wenig Schaden. Sein Verlangen ließ nicht nach, wenn auch oft seine Verliebtheit. Er verliebte sich in Belanglosigkeiten, ein Lachen, die Form eines Beines, ein Lächeln; kein Wunder, dass sein Interesse rasch verflog.
Er freundete sich mit seinem Vetter Seymour an, der ein Jahr älter und Kommunist war und sich bemühte, ihn anzuwerben. »Du bist ein Dilettant«, sagte Seymour zu ihm. »Nichts bewegt dich, oder alles bewegt dich.«
Mr. Pao hielt das für eine annehmbare Daseinsweise. »Das höchst Gute gleicht dem Wasser. Das Wasser nützt den zehntausend Wesen und streitet nicht; es fließt selbst dahin, wo kein Mensch sein mag. Darum ist es nahe dem Weg«, zitierte Pao aus dem Taoteking.
Daniel war sich uneins, ob er wirklich so wässerig bleiben wollte. Er versuchte, sich wundersame Leidenschaften vorzustellen, die ihn länger als zwei Wochen beschäftigen würden. Nur die Frau des Arztes hatte sein Interesse wach gehalten, doch es hieß, sie sei mit einem Engländer durchgebrannt, der angeblich Geheimagent war und sich dann als Hochstapler mit einem Berg Schulden entpuppte. Onkel Nats Briefe waren voll von Katastrophen unbegreiflichen Ausmaßes, Menschen fielen wie welkes Laub und gaben einen blutigen Kompost ab, während der Krieg unaufhörlich weiterging. Die Japaner kontrollierten nun die Stadt. Onkel Nat beschrieb ein letztes Kontingent von tausend polnischen Juden, die auf der Suche nach Sicherheit bis dorthin geirrt waren. Viele Flüchtlinge saßen in Schanghai fest, das keine Visa verlangte, keine Pässe, keine Papiere, keine Zeugnisse über Unbescholtenheit und vergangene oder gegenwärtige Reichtümer. Der Krieg bescherte allen Armut, berichtete Onkel Nat. Bald würde er nur noch ein yang kueitze sein, das Schimpfwort für mittellose Ausländer. In Hongkew, schrieb Onkel Nat, gab es inmitten der Ruinen und Schutthalden ein Kammerorchester, mehrere Theater und einen hin- und herwogenden Krieg kultureller Versnobtheit zwischen den Juden aus Wien und den Juden aus Berlin. Daniel wurde von Heimweh gepackt. Seine Eltern sangen die Litanei über die Klugheit ihrer Abreise. Nur sein Lehrer Pao Chi teilte seine Faszination für das, was in China vorging.
Daniel arbeitete als Platzanweiser in einem Kino. Im Sommer kellnerte er in den Catskills. Ein einziges Mal drang seine Chinaleidenschaft in sein College-Leben ein, als er nämlich gebeten wurde, im Progressive Club einen Vortrag über die Lage in China zu halten. Seine Rede war kein Erfolg, denn sein Selbstvertrauen, in Einzelbegegnungen oft das eines Löwen, schwand beim Anblick der ausdruckslosen, anonymen Gesichter. Nach dem Examen war die einzige Arbeit, die er finden konnte, das Zustellen von Gerichtsvorladungen.
Trotzdem zahlte sich sein missratener Vortrag doch noch aus, denn sein Volkswirtschaftsdozent hatte seinen Namen jemandem von der Marine genannt, der nun im Frühjahr 1941 anrief und fragte, ob er nicht vielleicht an einem Japanisch-Intensivkurs diesen Sommer in Harvard interessiert sei. Die Marine brauchte japanischsprachige Offiziere und bot entsprechende Schulung an. Die meisten Studenten konnten schon etwas Japanisch, aber andere, so wie er selbst, wurden wegen ihrer Chinesischkenntnisse angeworben. Daniel hielt das im Stillen für ein Beispiel weißer Dummheit, denn obwohl die Schriftsprachen viele Zeichen gemeinsam hatten, waren die gesprochenen Sprachen weniger miteinander verwandt als Norwegisch mit Italienisch. Das Vorgehen der Marine beruhte auf der typisch amerikanischen Haltung, wenn ein Mensch schon eine dieser komischen Heidensprachen lernen konnte, warum dann nicht gleich noch eine?
Da er nicht zu seinem Onkel zurückkonnte, erschien ihm dies verlockender als der einzige andere Weg, den er vor sich sah, nämlich weiterhin Gerichtsvorladungen für die Binokelfreunde seines Vaters zuzustellen. Er kam sich vor, als sei er, Daniel, der Bedrücker all der kleinen Ganoven, der Ehemänner auf Abwegen, der unglücklichen Zeugen und der ertappten Buchmacher. Zweimal hatten die Vorgeladenen schon nach ihm geschlagen.
Also auf nach Harvard. Für einen Jungen vom City College war das ein Blick in das Leben der oberen fünf Prozent. Seine Eltern sprudelten vor Freude: Judy heiratete einen netten jüdischen Zahnarzt, Haskel beendete sein Medizinstudium, und nun ging ihr Jüngster nach Harvard. Er wusste, ein Intensivkurs am Yenching-Institut war nicht ganz das, was man unter »nach Harvard gehen« verstand, aber weitaus besser, als das Pflaster der Bronx zu treten und nach Leuten zu suchen, die nicht von ihm gefunden werden wollten.
Seine Tage in Harvard waren angenehm. Er begann in der Anfängerklasse, aber sobald er sich hineingekniet hatte, stieg er rasch auf. Er machte seine Zimmergenossen wahnsinnig, denn er bestand darauf, vom Aufwachen bis zum Einschlafen nur Japanisch zu sprechen. Bis zum Oktober hatte er deutliche Fortschritte gemacht und war hochgestuft worden. Er machte lange Spaziergänge am Charles River, durch Cambridge, zum Mount-Auburn-Friedhof. Sonntagabends ging er in Boston mit Kameraden aus seinem Kurs chinesisch essen und gab damit an, aus der chinesischen Speisekarte zu bestellen. Viele der Restaurants waren natürlich kantonesisch, was er nicht sprechen konnte. Eines Tages würde er es lernen: nach dem Krieg, wenn er nach China zurückkehren konnte. Aber wenn er schon nicht nach China konnte, dann war Boston gar nicht so übel. Seine Zimmergenossen machten sich über ihn lustig, weil ihm Boston lieber war als New York, aber mit New York verband er nicht Manhattan, sondern die ärmeren Quartiere der Bronx. Er konzentrierte sich auf den anspruchsvollen und intensiven Unterricht. Seine Arbeitstage waren zu lang für Liebesgeschichten. Obwohl er mit stechendem, aussichtslosem Interesse den Radcliffe-Girls auf ihren Fahrrädern nachsah, fand er sein Leben kultiviert und merkte, er war glücklich. Endlich rief etwas anderes als