»Englisch ergibt keinen Sinn. Es gibt keine Regeln.«
Ruthie dachte darüber nach. »Ein paar muss es doch geben.«
Naomi schaute sie immer noch an. »Werden meine Augen je grün wie deine?«
»Aber deine Augen sind doch hübsch, Naomi. Haselnussbraun ist genauso hübsch.«
»Wird mein Haar je schwarz wie deins, oder wird es immer braun sein?«
»Ist dein Haar dunkler geworden, seit du klein warst? Vielleicht wird es dann noch dunkler. Aber es hat eine hübsche Farbe. Man nennt das hier Kastanienbraun. Ich weiß nicht, warum. Ich habe noch nie eine Kastanie gesehen.«
»Was ist eine Kastanie?«
»Schlag es in deinem Lexikon nach.«
Naomi hatte ein großes grünes Englisch-Französisch-Lexikon von ihrem Vater bekommen. Es gehörte zu den wenigen Schätzen, die sie aus Europa mitgebracht hatte. »Marrons! Du weißt nicht, was das ist? Sie werden an Straßenecken verkauft, über kleinen Feuern geröstet. Sie werden gemahlen und in Süßspeisen getan. Und in Sirup. Marrons glacés.« Naomis herzförmiges kleines Gesicht belebte sich, bis es fast sprühte. Sie vibrierte vor Energie. »Es gibt eine Süßspeise, die heißt Mont Blanc, das ist Kastaniencreme, très riche. Esst ihr das nie?«
»Ich glaube, wir haben hier keine Kastanien. Wir haben Hickorynussbäume überall in Michigan und Walnussbäume. Wir sind mal zu einem Häuschen gefahren, das einem russischen Juden gehört, einem Freund von Tate, und wir haben schwarze Walnüsse gepflückt. Das war, bevor du gekommen bist, Naomele. Ich hoffe, wir fahren irgendwann mal wieder hin. Das sind große ölige Kugeln, die du aufreißen musst, um an die innere Nuss zu kommen, und sie hinterlassen auf deinen Händen dunkle Flecken.«
Murray wollte sie zum Essen ausführen und dann ins Kino, aber sie half Mame noch bei den Piroschki, indem sie den Teig vorbereitete. Der Abend war bitterkalt. Duvey war aus. Nur Arty und Tate saßen im Wohnzimmer und hörten die Nachrichten. Sharon und die Kleinen waren bei Mame in der Küche, so wie jetzt auch sie und Naomi, um es warm zu haben. Für die Kohlen mussten sie selber aufkommen, deshalb konnten sie sich nicht leisten, das Haus bullig warm zu halten. Der Wind vom Fluss rüttelte an jedem Fenster und kroch in die Ritzen des alten Holzhauses. Die dampfige Küche roch gut und machte Ruthie den Abschied schwer.
Als sie in ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen, kam Naomi ihr nach und saß bedrückt auf dem unteren Etagenbett, in dem Ruthie schlief (das Vorrecht der Brotverdienerin), und schaute mit traurigen Augen. »Zazkele, was schmollst du?« Ruthie fasste Naomi liebevoll unter das kleine spitze Kinn.
»Wer ist der Mann? Was willst du von ihm?«
»Er ist ein netter junger Mann, ein Student aus dem College. Du wirst ihn mögen.«
»Werd ich nicht.« Naomi schaute finster. »Du trägst mein Lieblingskleid für ihn.«
Das rote Taftkleid. Es war Ruthies einziges hübsches Kleid, obwohl sie einen Dollar auf das grüne Samtkleid angezahlt hatte, das jetzt zurückgelegt war. Sie hoffte, es im Januar abbezahlt zu haben, denn ihr fehlten noch fünf Dollar. So lange durfte es eigentlich nicht zurückgelegt werden, aber die zuständige Verkäuferin mochte Ruthie.
Murray kam zu früh, doch Ruthie war so nervös gewesen, dass sie sich zurechtgemacht hatte und schon wieder mit einer Schürze über dem Kleid in der Küche stand und Mame beim Piroschkibacken half. Rasch riss sie sich die Schürze ab und lief ins Wohnzimmer. Tate gab sich ungezwungen mit Murray, schüttelte ihm die Hand und fragte ihn nach seiner Meinung, ob die Engländer mit den Bombenangriffen zermürbt werden konnten, ob die Deutschen immer noch vorhatten, in England einzumarschieren. Ruthie gefiel an Murray, dass er verlegen dreinschaute und sagte, das wüsste er nicht. Männer plapperten oft nach, was sie in der Zeitung gelesen hatten, und gaben vor, eine Art Geheimwissen zu besitzen.
Gerade, als er ihr ungeschickt in den Mantel half – das Futter war zerrissen, und ohne Bobe waren sie mit dem Ausbessern im Verzug –, kam Duvey herein. Mame hatte Murray von der Küchentür aus begrüßt und verkrumpelte mit den Händen ihre Schürze, als könnte das verbergen, dass sie eine trug. Jetzt kreischte sie auf, als sie Duveys Gesicht sah. »Dovidel!«, schrie Mame. »Was ist dir passiert?«
»Bin auf dem Eis ausgerutscht«, sagte Duvey unwirsch und rieb sich die Nase.
Tate schaute Ruthie an, die seinen Blick erwiderte. »Du solltest dich mit deinem jungen Mann auf den Weg machen, bevor ihr zu spät kommt«, sagte er sanft. Tate glaubte auch nicht an Duveys Sturz, wollte aber Mame nicht erschrecken, indem er Skepsis äußerte. Wenn er von Chevrolet heimkam, war er kaputt bis auf die Knochen und mochte sich nicht mehr Ärger suchen, als ihm ohnehin zuteil wurde.
»Majn lebn, du hast dir was am Auge getan, an der Nase.« Mame untersuchte Duveys Gesicht, der zog ungeduldige Fratzen, ließ sich aber trotzdem bemuttern und ins Badezimmer bringen.
Draußen auf der Straße, als sie zur Woodward-Straßenbahn eilten, sagte Murray: »Ich fand, es sah aus, als ob dein Bruder eine Schlägerei hatte.«
»Danke, dass du vor Mame nichts gesagt hast. Morgen wird er ein blaues Auge haben.«
»Weißt du, worum es da geht?«
Ruthie schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, ob ich’s wissen will. Duvey ist ein bisschen ungeraten.«
Sie gingen in ein chinesisches Restaurant, was für Ruthie neu war. Darüber musste Murray lachen. Schließlich aßen doch alle Juden, die keine koschere Küche einhielten, chinesisch, wenn sie ausgingen. In der Reformsynagoge, wenn du da deine bar mizwa bekamst, wurde dir sogar gesagt, nun seist du ein Mann und solltest mit deiner Familie jeden Sonntag chinesisch essen gehen.
Murray war nur wenig größer als Ruthie, nicht wie Leib, der sie um dreißig Zentimeter überragt hatte. Ihr gefiel, dass er so klein war, wie Tate, wie sie selbst. Sie hatte keine Angst vor ihm wie unterschwellig immer vor Leib. Er schien sanfter.
Er erzählte ihr, wie sein Vater als De Soto-Dodge-Händler 1930 Pleite gemacht und danach versucht hatte, als Vertreter zu arbeiten. Dann hatte er die Ersparnisse abgehoben und eine Hühnerfarm gekauft. »Wie er auf die Idee gekommen ist, Juden aus Detroit könnten plötzlich eine Hühnerfarm betreiben, weiß ich nicht. Zurück aufs Land. Er sagte immer, egal, was passiert, verhungern können wir nicht.«
»Und was ist passiert? Habt ihr alle Hühner aufgegessen?«
»Erst hat ein Hund sich welche geholt, dann ein Fuchs. Die Überlebenden kriegten eine Krankheit. Eines Morgens lagen sie alle, die Beine in die Luft gestreckt, räudig und zerrupft, tot auf dem Hof. Dann haben wir’s mit Puten versucht, von gepumptem Geld.«
»Mit Puten?« Ruthie lachte. »Ich dürfte nicht lachen. Ich weiß nicht, warum ich das komisch finde.«
»Aber es war ja komisch. Wenn es was noch Blöderes gibt als Hühner, dann sind es Puten. Aber wenigstens krähen sie nicht. An den grässlichen Spektakel bei Sonnenaufgang habe ich mich nie gewöhnt.« Murray wedelte mit den Armen und lieferte eine glaubwürdige Imitation. Alle schauten zu ihnen herüber, aber Murray schien das nicht zu bemerken. Er hatte nur Augen für sie. Ruthie wurde rot. »Jetzt hat er einen Pächter auf der Putenfarm. Meine Eltern sind wieder in die Stadt gezogen, in einen Vorort. Er verkauft wieder Autos für einen Händler an der Grand River, aber in letzter Zeit ist die Produktion gedrosselt worden, und ich weiß nicht, was er als Nächstes versuchen wird.«
Seine Augen hinter der Hornbrille hatten ein volles, warmes Braun mit Bernsteineinsprengseln. Sein glatt zurückgekämmtes, hellbraunes feines Haar haftete vor statischer Aufladung an seinem Hemdund Pulloverkragen und stand ihm auf dem Kopf zu Berge. Sie versicherten einander, dass sie beide fest entschlossen waren, den College-Abschluss zu machen. Murray sah sich nach einer Stelle als Kellner um, damit er tagsüber aufs College gehen und schneller fertig werden konnte. Vorläufig