Schriftkundige Leute hielten die Verbannung der beiden Fabeltiere auf Pergament fest und
verwahrten die Aufzeichnungen im Kloster Memleben. Dort fand sie der Herzog, der hier
als junger Mann theologischen Studien nachging. Doch er studierte nicht nur die Lehre von
Gott, sondern im Geheimen auch die Schwarzen Künste der Zauberei und des Hexenwesens.
Bald gewannen die teuflischen Schriften seine Seele und kaum merklich wurde er zu einem
herzlosen, finsteren Zauberer. Er verließ das Kloster und riss das Herzogtum seines Vaters
an sich, der aus Kummer über den gewalttätigen Sohn starb. Heinrich reihte sich durch seine
Eroberungen bald in die Riege der finstersten Herrscher der Geschichte ein.
Schließlich gaben ihm die Menschen den Beinamen der „Grimmige“, bei seinen Soldaten
aber hieß er Herzog Bösherz.
An seinem geschmiedeten Helm ließ Heinrich die Hörner eines Auerochsen anbringen,
den er eigenhändig niedergerungen hatte. Aus stählernen Platten und Plättchen ließ
er sich eine Rüstung fertigen, die seinen ganzen Leib bedeckte. Mit dem Blut einer
giftigen Echse wurde eine grässliche Fratze auf den Brustpanzer geätzt, die seine
Gegner einschüchtern sollte. Diesen Harnisch mussten erfahrene Wikingerschmiede
wochenlang im Feuer härten, wobei sie allerlei wunderbare Techniken anwandten. Sein
Schwert, dem er den Namen „Umhau“ gab, war so schwer, dass ein Ritter beide Hände
gebrauchen musste, um es aufheben zu können.
Zu guter Letzt mischte er aus dem Saft der Alraune, dem getrockneten Herzen
eines Wolfes und dem Schleim einer Kröte einen Balsam, der ihn unverwundbar
machen sollte.
An der Spitze seines furchteinflößenden Heeres eroberte er viele Gaue und Grafschaften.
Schließlich drang er zu Beginn des Frühlings in Thüringen ein.
Die kluge Landgräfin Jutta versuchte anfänglich mit Verhandlungen, den gefürchteten
Feind fernzuhalten, aber Heinrich der Grimmige setzte die Boten der Landgräfin
gefangen und lachte lauthals über deren Friedensabsichten.
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„Wollen sehen, wie fest die Mauern ihres Schlosses sind“, spottete er voller Hohn und
befahl den Angriff der vollständig eingeschlossenen Burg am Weißen See.
Rapagon griff die Türme von der Luft aus an, Hydragona schwamm im Burggraben
und machte von hier aus der Burgbesatzung zu schaffen.
Die letzte Rettung
Während die Belagerung Tag und Nacht tobte, versammelten sich die letzten Ritter,
die noch nicht verwundet oder kampfunfähig waren, im Palas, dem großen Palastbau
der Burg.
Zuerst trat der Schenk von Vargula hervor und sprach: „Edle Herrin, wir können die Burg
nicht mehr lange halten. Alle meine Mannen sind schon verwundet oder gefangen, und
auch Ramses, der unbezwingbare Löwe, verliert stündlich an Stärke.“
„Ja, Herrin“, wandte sich nun auch Ritter Heinrich vom Weißen See an seine
Landesfürstin. „Auch meine Burgmannen sind am Ende ihrer Kräfte.“
Betrübt sah die Landgräfin Jutta zu ihrem Lieblingsritter, dem Herrn Rudolf von
Bilzingsleben. „Was sagt Ihr, Herr Rudolf, zu unserer Lage?“
„Wir sollten nicht verzweifeln und umgehend Euren Freund, den Drachen Emil,
suchen, denn nur er kann uns noch retten. Ich werde mich umgehend auf den
Weg machen.“
„Der Drache Emil?“, fragte der Schenk von Vargula zweifelnd. „Keiner weiß, was
aus ihm geworden ist.“
„Er wird in der Drachenschlucht hausen“, vermutete Ritter Rudolf.
„Niemand hat ihn je wieder zu Gesicht bekommen, seit jenem Tag am Weißen
See“, bemerkte ein anderer Ritter.
In diesem Moment trat ein junges Mädchen von vielleicht zwölf, dreizehn Jahren
in die Mitte der Ritterschaft.
„Gestattet mir, dass ich spreche, edle Landgräfin“, bat es und sah ein bisschen
ängstlich in die Runde der finster dreinblickenden Mannen. „Lasst mich nach
Emil suchen! Ich kenne ihn und weiß, dass er uns helfen wird.“
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Einer der Ritter brummte belustigt: „Ein kleines Mädchen soll den Drachen suchen?“
Die edle Landgräfin Jutta erhob jedoch die Hand. „Ihr alle habt Recht, wir sollten den
Drachen aufspüren. Aber sag, kleines Mädchen, wer bist du?“
„Ich bin das Ziegenherzchen. Einst jonglierte der Drache mit meinen Schäfchen, aber
wir wurden Freunde und ich glaube, er erkennt mich wieder.“
„Für ein Kind wie dich kann das sehr gefährlich werden“, gab die Herrin Jutta zu
bedenken.
„Meine Fürstin, ich würde es trotzdem gern versuchen. Auch würde man mich bei der
Belagerung nicht missen.“
„Ausgeschlossen!“, protestierten die Ritter. „Das muss einer von uns machen. Wer weiß,
was dem Mädchen zustößt. Es hat keine Waffen und keine Rüstung.“
„Nein, Ihr Ritter“, warf nun der ehemalige Klosterbruder Wolfgang ein, der mittlerweile
zum Bischof berufen worden war und der Landgräfin zur Seite stand. „Das Ziegen-
herzchen hat Recht. Wahrscheinlich gelingt es nur ihr, gerade weil sie kein Ritter in
Rüstung ist, sich unbemerkt durch die Reihen der Feinde zu schlagen.“
„Bischof Wolfgang“, sprach nun die Landgräfin, „Ihr seid ein kluger Mann. Wir werden
auf Euren Rat hören. So soll es denn sein. Gehe, Mädchen, und suche den Drachen Emil
und rette Thüringen!“
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