Das Manifest hat recht mit seiner (offenkundig und notwendig schematischen) Behandlung der ökonomischen Konstitution der Klassen im Rahmen der Entwicklungsphasen der Produktionsweise. Aber es hat fatale Mängel, wo die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen systematisch behandelt werden. Hier erhält man entweder nur unbefriedigende Antworten (z.B., Politik und Ökonomie seien mehr oder weniger richtungsgleich, würden sich mehr oder weniger »entsprechen«), oder es bleibt eine Lücke stehen, die dann später immer wieder mit der fehlerhaften Abstraktion eines Lukács’schen Historizismus gefüllt werden kann. Kurz, all das, was notwendig ist, um die Spezifik des politischen Klassenkampfes und seine Beziehung zur ökonomischen Sphäre zu denken – wovon unsere Fähigkeit, »das Ensemble« als ein Ganzes zu erklären, abhängt –, ist zu diesem Zeitpunkt im marxschen Denken als verwendbares begriffliches Instrumentarium noch nicht vorhanden. Die »Entdeckung« dieser Begriffe wurde geradezu erzwungen durch die historische und politische Konstellation, zu deren Erklärung sie benötigt wurde – den Zusammenbruch der 1848er Revolution. Ihre klarste und gehaltvollste Formulierung findet sich denn auch in den Schriften über Frankreich, eher flüchtig (und weniger befriedigend) in den Randbemerkungen zu England – Texte, die, ausgelöst durch die Niederlage der Revolution, in einem Augenblick der theoretischen Reflexion und Klärung geschrieben wurden. Hier befinden wir uns auf dem Boden wirklicher Entdeckungen und eines revolutionären theoretischen Durchbruchs. Dieser Durchbruch findet zwar »im Denken« statt, lässt sich aber wohl kaum angemessen als »epistemologisch« bezeichnen.
Wir sind jedoch dem Manifest, diesem Text mit seiner blendenden Oberfläche, noch nicht auf den Grund gegangen. Warum und wie haben Marx und Engels sich diese »Klassenvereinfachung« als impliziten Bestandteil der sich entfaltenden kapitalistischen Entwicklung vorgestellt (mit den entsprechend folgenschweren Konsequenzen für die Entzifferung der Bewegungen des Klassenkampfes)?
II
Diese »Vereinfachung« wird durch den wachsenden Umfang und die steigende Stufenleiter der kapitalistischen Produktion hervorgerufen. Es ist nützlich, die Umstände, die das Proletariat zunächst hervorbringen, dann entfalten und schließlich alle Mittelschichten in seine wachsenden Reihen treiben, kurz aufzulisten (vgl. MEW 4, 468f.): a) die Formierung einer Klasse ohne Eigentum an den Produktionsmitteln, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat, den »Wechselfällen der Konkurrenz und allen Schwankungen des Marktes« ausgesetzt; b) die Arbeitsteilung als Folge der extensiven Anwendung von Maschinerie, die den Arbeiter »dequalifiziert«, ihn zum bloßen Zubehör der Maschine degradiert; c) die wachsende Ausbeutung der Arbeitskraft, »sei es durch Vermehrung der in einer gegebnen Zeit geforderten Arbeit, beschleunigten Lauf der Maschine usw.«; d) die Zusammenfassung der Arbeiterschaft als »industrielle Armee« in der Fabrik unter dem Kommando von »Unteroffizieren und Offizieren des Kapitals«; e) die Entwertung der Arbeit durch die Senkung des Wertes der Arbeitskraft – die Einstellung von Frauen und Kindern zu niedrigeren Löhnen; f) die Auslieferung der Klasse zur Ausbeutung auf dem Subsistenzmittelmarkt – durch den Hausbesitzer, den Krämer, den Pfandleiher. In diesem Kontext steht g) die These, dass die untere Schicht des Mittelstandes schrittweise »ins Proletariat hinabfällt« – teilweise durch ihren verlorenen Kampf gegen h) das konzentrierte Großkapital. Die Mittelschichten sind das, was Gramsci die »subalternen« Fraktionen der Mittelklassen nennen würde. Sie sind ihrem Wesen nach konservativ und reaktionär, es sind diejenigen, die »suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen«. »Revolutionär« sind oder werden sie nur »im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat« (MEW 4, 472) – im Hinblick auf ihre »Proletarisierung«.
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass alle diese rasch skizzierten Gedanken im 13. Kapitel des ersten Bandes des Kapital, dem Kapitel über »Maschinerie und große Industrie«, wieder auftauchen und dort ausführlich entwickelt werden. Die historische Bildung einer Klasse »freier Lohnarbeiter«, die nichts zu verkaufen hat als ihre Arbeitskraft und aus dem Geflecht der feudalen Beziehungen hervorgegangen ist, ist im Kapital beständiger Bezugspunkt als die »historische Basis« des Kapitals. Die zunehmende Reduktion des Arbeiters auf ein »Zubehör der Maschine« steht im Mittelpunkt der marxschen Beschreibung des Arbeitsprozesses und seiner qualitativen Unterscheidungen zwischen der Phase der »Maschinerie« und der der »großen Industrie«. Die Beschreibung der wachsenden Ausbeutung der Arbeitskraft deutet auf die wichtige Unterscheidung im Kapital zwischen absolutem (Verlängerung des Arbeitstages) und relativem Mehrwert (Zunahme der »toten« im Verhältnis zur »lebendigen« Arbeit) hin. Die Darstellung der zunehmenden Hierarchisierung und des wachsenden »Despotismus« des Kapitals führt dann weiter zur Unterscheidung zwischen »formeller« und »reeller« Subsumtion der Arbeit. Die »Entwertung« der qualifizierten Arbeitskraft und die Bildung einer »Reservearmee« sind zwei entscheidende, dem »tendenziellen Fall der Profitrate« »entgegenwirkende Ursachen«, die beide im ersten Band des Kapital (z.B. in Kapitel 24) diskutiert werden und dann wieder im dritten Band, in dem die wachsenden Konzentrations- und Zentralisationsprozesse des Kapitals ausführlicher dargestellt sind. In diesem Kontext wird auch die Entstehung des »Gesamtarbeiters« beschrieben und zum ersten Mal auf die Ausbreitung der neuen Zwischenschichten als Folge der sich entwickelnden Arbeitsteilung verwiesen, da das alte Kleinbürgertum und seine materielle Basis in »Klein«- und Handelskapital zerfallen. Im Rahmen dieser ausführlichen theoretischen Darstellung wird die Skizze im Manifest, die kaum mehr als einen Hinweis darauf enthält, wie die kapitalistische Produktion die Grundlage für diese Bildung und Neugruppierung der Klassen bildet, erweitert und transformiert. Wir müssen also wiederum die für die Entwicklung einer Theorie der Klassen notwendigen Kontinuitäten und Brüche beachten.
Die von Marx im Kapital verwandten Formulierungen, dort, wo er die allgemeine Tendenz der ganzen Entwicklung – in konzentrierter Form – darstellen will, sind denen, die er im Manifest anwendet, auffallend ähnlich. Man braucht sich nur dem zusammenfassenden Überblick in dem kurzen Abschnitt über die »Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« im 24. Kapitel des ersten Bandes zuzuwenden, um die vertrauten Sätze erneut zu hören:
»Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen. (…) Sobald dieser Umwandlungsprozess nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit (…) eine neue Form. (…) Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. (…) Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewusste technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts (…)« Damit zugleich aber »wächst (…) auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.« (MEW 23, 789ff.)
Das ist das Echo, die »Stimme« des Manifestes im Kapital. Aber neben dieses Resümee müssen wir die Einzelheiten setzen, mehr noch, wir müssen uns die Methode ansehen, mit der die einfache Skizze im Manifest in die Ausdrücke und Begriffe der im Kapital dargestellten Untersuchung übersetzt wird. Ein »Lesen« des Textes, das den Gehalt dieser theoretischen Transformation im Einzelnen nachweisen könnte, ist im Rahmen dieses Artikels unmöglich. Aber anhand von einigen Beispielen lässt sich zeigen, wie der im Manifest skizzierte Prozess – der dort größtenteils als eine lineare Entwicklung