Er griff sich mit der Hand in seine linke, tief eingeschnittene Geheimratsecke und riss sich nachdenklich ein Haar aus. Dann erst sah er mich wieder an. »Vor zwei Wochen ist Ali, der Elefantenbulle des Zoos, bei einer Fußoperation überraschend an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Deshalb trauern die Weibchen. Er war erst dreiundzwanzig und es ist ein schrecklicher Verlust für sie.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Entschuldigen Sie. Trauern. Klingt das nicht ein bisschen … menschlich?«
Nun sah mich Hannibal Mayer erstaunt an. »Nein, keineswegs. Elefanten trauern. Sehr intensiv sogar. Wie Menschen. Sie bedecken zum Beispiel verstorbene Familienmitglieder mit Zweigen, und wenn sie an einem Ort vorbeikommen, an dem ein Tier verendet ist, legen sie dort jedes Mal eine Gedenkminute ein. Vielleicht entstanden so die Mythen von den Elefantenfriedhöfen.Aber das ist noch nicht alles: Elefanten weinen sogar, wenn sie traurig sind.«
Ich lachte. »Sie übertreiben. Oder?«
»Nein, schauen Sie selbst.« Er deutete mit einem spitzen Finger auf die größte Elefantenkuh. »Schauen Sie sich ihre Augen ganz genau an. Sie weint.«
Tatsächlich. Unter den dicken Wimpern des Tieres hingen große Tropfen. Und jetzt sah ich auch die Trauer im Blick Arubas. »Ich wusste nicht, dass Elefanten so … äh, einfühlsam sind.«
»Oh ja, das sind sie. Sie sind klug und kennen wie wir alle Gefühle: Freude,Trauer,Aggression, Liebe,Angst und Leidenschaft. Und sie treten füreinander ein.Vor allem aber sind sie lernfähig. Das heißt: Elefanten sind keine Instinkttiere. Wie bei den Menschen wächst ihr Gehirn langsam und sie müssen nach ihrer Geburt fast alles von ihrer Mutter und ihren Tanten beigebracht bekommen oder es sich durch Erfahrung aneignen. Die älteren Tiere geben ihr Wissen dann wei ter - von Generation zu Generation. Und wie Sie vielleicht schon gehört oder gelesen haben: Elefanten besitzen ein sehr gutes Gedächtnis. Darum ist der Elefant in vielen Kulturen ein Symbol für Weisheit und Stärke. Er kann Pläne schmieden und sie auch um setzen.«
Ich grinste. »Sind Sie Biologe oder Tierpfleger?«
Er reagierte nicht auf mein Grinsen, sondern sagte leise, fast schüchtern: »Weder noch. Ich bin Unternehmer. Elefanten sind mein Hobby. Und was machen Sie?«
»Ich bin Journalist und Musiker - allerdings im Augenblick ein wenig frustriert.«
Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Ich kannte den Mann ja gar nicht. Darum fügte ich schnell hinzu: »Was wird denn jetzt aus meiner Uhr?«
Hannibal Mayer schaute kurz über seine Schulter, dann winkte er mich hinter sich her. »Kommen Sie. Die aggressiven Eltern von vorhin sind weg.«
Am Zaun stellte er sich breitbeinig hin und bat die herumstehenden Familien mit einer natürlichen Autorität, das Füttern einen Moment zu unterlassen. Dann sah er der Elefantin in die Augen und deutete mehrfach lachend auf meine Uhr, die noch immer am Boden lag. »Heya! Heya!«
Fasziniert schauten ihn die Umstehenden an. Doch plötzlich erhob sich ein Murmeln. Denn Aruba stellte tatsächlich den Kopf schräg, erspähte die Uhr, hob sie mit ihrem Rüssel auf - und ließ sie in Hannibals Hand fallen. Begeisterter Applaus beendete die kurze Vorstellung und der nun sehr entspannt wirkende Unternehmer deutete eine kleine Verbeugung an, bevor er mir das kostbare Stück in die Hand drückte. »Bitte sehr.Wissen Sie, Elefanten spielen gerne.Würde Aruba nicht trauern, hätte sie Ihnen die Uhr wahrscheinlich von allein zurück gegeben. So musste ich ein wenig nachhelfen. Aber es hat ja funktioniert.«
Ich streifte die Uhr über. »Wo haben Sie das gelernt?«
Er schwieg einen Augenblick, schüttelte dann in Gedanken versunken den Kopf und erwiderte melancholisch: »Bei einem guten Freund. Ist aber schon lange her. Mehr als dreißig Jahre.«
Eine Schwere hatte ihn mit einem Mal ergriffen und ich sagte spontan: »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe bedanken. Darf ich Sie zu einem Glas Wein oder einem Bier einladen?«
So landeten wir im Zoo-Restaurant »Sambesi« - und ich erfuhr dort zum ersten Mal von den ungewöhnlichen Plänen Hannibal Mayers, die die Kraft hatten, mich und die Welt zu verändern.
Zu Beginn redete allerdings nur ich.Wir saßen auf großen Sesseln aus Bambus - und ich erzählte und erzählte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich diesem Mann. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht ging ich davon aus, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Jedenfalls sprach ich offen von meinen Schreibblockaden, von der Enttäuschung über mein wieder einmal gescheitertes Liebesleben und von den vielen herausfordernden Fragen, die ich plötzlich an das Dasein hatte. Da sagte er mitten in einen Satz hinein: »Glauben Sie an Gott?«
Ich stellte mein Glas ab.Verdutzt entgegnete ich: »Das weiß ich nicht so genau.Wieso fragen Sie?«
»Ach, das liegt mir wohl in den Genen.Wissen Sie: Mein Vater war Missionar. Einer, der auf alles eine Antwort hatte. Zu jeder Zeit. Wahrscheinlich habe ich mich deswegen auch vom Glauben abgewandt. Das war mir alles zu einfach. Trotzdem sehne ich mich manchmal nach dem Urvertrauen und der Hoffnung, die mein Vater hatte. Er hätte Ihnen wahrscheinlich gesagt, dass Sie sich mit Ihren Gedanken zu sehr um sich selbst drehen und dass man sich einen Sinn gar nicht selbst geben kann. Und dann wäre er ganz schnell beim Heiland gelandet.«
»Nun, darauf ein kräftiges ›Amen‹.«
Wir hoben die Gläser und tranken uns fröhlich zu. Dann beugte er sich zu mir und senkte die Stimme. »Glaube und Wahnsinn sind manchmal sehr nah beieinander.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
Er flüsterte nur noch: »Weil ich seit einiger Zeit Visionen habe - und mich frage, ob ich nicht langsam verrückt werde. Oder ob das möglicherweise doch so eine Art himmlisches Zeichen ist.«
»Visionen? Was meinen Sie denn damit?«
»Nennen wir es lieber Träume. Oder besser: einen Traum. Es ist ein Traum, den ich seit Wochen immer wieder habe. Und er ist viel klarer, als Träume es gewöhnlich sind. Ich sehe die Dinge scharf und präsent - und kann mich am Morgen an jedes Detail erinnern. Und irgendwie hat es etwas mit diesem Reiher zu tun.«
»Was denn für ein Reiher?«
Sein Mund war jetzt fast an meinem Ohr: »Anfang Januar saß eines Abends ein afrikanischer Reiher auf meinem Balkon.Ardeola ibis. Den erkennen Sie an den roten Beinen. Der hat zu dieser Jahreszeit nun wirklich nichts in Deutschland zu suchen. Und ich vermutete zuerst, das wäre ein Hinweis auf die Klimakatastrophe - vor allem, weil der Vogel mich so intensiv anstarrte. Ich machte die Vorhänge zu und dachte nicht weiter daran.Aber in jener Nacht hatte ich zum ersten Mal den Traum. Seither taucht dieser Reiher regelmäßig auf. Und jedes Mal träume ich dann nachts.«
Ich musste schlucken. »Und was träumen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Sie werden lachen.«
Ich hob demonstrativ die Hände. »Auf keinen Fall. Ich bitte Sie. Sie haben mir zugehört. Und ich werde Ihnen auch gerne zuhören.«
»Gut.Aber bitte nicht lachen. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich das alles einordnen soll.Vielleicht erweist sich das Ganze als reine Fantasie, als nervliche Überreizung oder so etwas.«
»Jetzt erzählen Sie schon.«
»Also: Ich sehe Shingwezi vor mir, eine Elefantenkuh, mit der ich es einmal vor langer Zeit zu tun hatte. Sie ruft mich zu sich. Sie braucht meine Hilfe. Sie bittet mich, zu ihr zu kommen und sie zu befreien - aus dem von Elefanten völlig übervölkerten Krügerpark. Sie braucht mich, ich weiß es. Das ist der verzweifelte Ruf einer leidenden Kreatur aus der Wildnis.«
Ich trank einen Schluck von meinem Wein. »Einmal angenommen, das stimmt und Sie hören tatsächlich den Hilferuf eines Tieres: Wie stellt sich diese Elefantin in Ihrem Traum das denn vor? Sollen Sie einen solchen Dickhäuter hier in Ihrem Vorgarten halten?«
Hannibal Mayer trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Dann hauchte er geheimnisvoll: »Sie sind