Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrich Pothast
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783465242734
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Lebensziel, oder um Sonstiges wie das »verworrene Gefühl« beim General Balaschow. Soweit diese beispielhaft erwähnten Faktoren in der Tat auf die eigene Aktivität der jungen Frau zurückgehen, wie ihr eigenes Nachdenken, beeinflusst die Frau dadurch erfolgreich ihren Willen. Sie tut dies jedoch nicht durch inneren Befehl, Bestimmungsakt oder ähnlich, sondern sie wirkt auf indirektem Weg darauf ein. Mit ihrem Nachdenken und der Abwägung von Argumenten schafft sie einen Einflussfaktor, von dem sie im Vorfeld nur weiß: Er wird ihr aktuelles Wollen und/oder ihren als Disposition vorhandenen Willen möglicherweise verändern – möglicherweise aber auch nicht. Ob sie mit ihren Gedanken ihr Wollen im Sinn eben dieser Gedanken tatsächlich beeinflusst, weiß sie erst, wenn sie spürt, wie ihr Wollen sich ändert oder geändert hat. Jeder von uns dürfte Fälle in Erinnerung haben, bei denen das eigene Denken etwas Bestimmtes als richtig hervorhob, das eigene Wollen aber dem Denken nicht entsprach, sondern sich auf ein anderes Handeln richtete. Das können wir als persönliches Versagen deuten oder als irrationale Regung oder noch anders. Jedenfalls bezeugen solche Erlebnisse, dass unser Denken keinen unmittelbaren Zugriff auf das eigene Wollen hat, sondern allenfalls die Chance bietet, dass das eigene Wollen sich ihm gemäß bildet. Je klarer und überzeugender das eigene Denken ausfällt, desto wahrscheinlicher dürfte es sein, dass das Wollen ihm folgt. Ein umwegloser, direkt lenkender Zugriff entsteht dadurch nicht.

      Es gibt etwas wie menschliche Selbstformung und ein Werden der Person zu sich. Es gibt beides aber nicht als unmittelbares Gestalten eigenen Willens, als sei der eine knetbare Masse, auf die wir nur innerlich zuzugreifen und sie nach eigener Vorstellung zu modellieren brauchten. Vielmehr ist jene Selbstformung ein Prozess, den wir allein durch Maßnahmen beeinflussen können, deren Wirken wir nicht Punkt für Punkt verfolgen und erst recht nicht sicher voraussagen können. Wir haben festgestellt, dass unser Wille auf innige Weise zu unserer Person gehört. Schon die Alltagserfahrung weiß, dass ein Verändern der eigenen Person bei weitem nicht so prompt und verlässlich erfolgt, wie es das Steuern mit einem sicher funktionierenden Mechanismus wäre. Vielmehr braucht es hier vor allem gute Kenntnis der für solches Verändern geeigneten Mittel und ein geschicktes, ausdauerndes, stets zu erneuter Anstrengung bereites Arbeiten mit klarem Denken und ruhiger Hand. So, wie wir unsere Person nicht unmittelbar austauschen, sondern nur über längere Zeit hinweg durch indirektes Einwirken verändern können, ist es auch mit unserem Willen: Wir können dieses zentrale Element unseres Personseins nicht in einem Akt machen, wie wir es haben möchten – so wenig wie wir uns als Person in einem Akt machen konnten.

II. In der Situation der Wahl müssen wir uns als freie Urheber unseres Tuns verstehen. Nach getaner Tat können wir die Dinge anders sehen

      Der Mathematiker Hermann Weyl, Professor in Zürich, hatte 1923 einen ehrenvollen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Göttingen und musste sich entscheiden, ob er den Ruf annehme oder ablehne. Er zögerte die Entscheidung sehr lange hinaus, weil Für und Wider sich die Waage hielten, auch weil sehr vieles für seinen Lebenslauf von dem Ausgang der Sache abhing. Über den Tag, an dem die Entscheidung schließlich fiel, berichtet er: »Als sich die Entscheidung nicht länger aufschieben ließ, lief ich im Ringen darum mit meiner Frau stundenlang um einen Häuserblock herum und sprang schließlich auf ein spätes Tram, das zum See und Telegraphenamt hinunterfuhr, ihr zurufend: ›Es bleibt doch nichts anderes übrig als annehmen.‹ Aber dann muss es mir das fröhliche Treiben, das sich an diesem schönen Sommerabend um und auf dem See entfaltete, angetan haben; ich ging zum Schalter und telegraphierte eine Ablehnung.«1

      Weyl ist kein zweiter Balaschow. Er hatte nicht über viele Tage hinweg eine klare Vorstellung von dem, was er tun wolle und werde, sondern suchte stattdessen über viele Tage, ja Wochen hin die rechte Entscheidung. Als er sie getroffen zu haben glaubte, hatte er sie doch noch nicht getroffen. Vielmehr entschied er sich buchstäblich im letzten Augenblick anders. Er ist ein sprechendes Beispiel für unsere Unfähigkeit, eigene Entscheidungen wirklich vor dem allerletzten Augenblick, dem Zeitpunkt des eigenen Handelns, als endgültig feststehend zu wissen oder gar vorauszusagen. Das gilt sogar noch für die begonnene Handlung selbst, wenn sie ein in der Zeit erstrecktes, gegliedertes Tun ist wie etwa das Sprechen eines Satzes oder mehrerer. Auch hier wissen wir nicht wirklich im Voraus, ob wir eine begonnene Sprachhandlung gemäß unserem Entschluss zu Ende bringen werden – oder ob wir wie Balaschow unterwegs vom zuvor gewollten Text abweichen und dann etwas anderes sagen als das zuvor Beabsichtigte.

      Die Tätigkeit der Philosophen, die sich mit der Frage nach der Willensfreiheit befassten, war im Ganzen nicht nutzlos. Sie hat ungewollt auch für das Gesamtbild personeigener Freiheit Wichtiges beigetragen. Es kam nämlich im Kontext jener Arbeiten neben dem Mainstream metaphysischer Überhöhungen des Menschenbildes auch eine Erkenntnis zustande, die für unsere jetzigen Zwecke große Relevanz besitzt. Sie wurde unter explizit naturwissenschaftlichen Prämissen erworben. Ich meine den Nachweis, dass wir unsere Entscheidungen, die zu konkretem Tun führen, selbst nicht verlässlich voraussagen können. Auch eigenes Handeln können wir nicht verlässlich voraussagen. Sogar wenn wir uns vorstellen, wir seien mit Erkenntnisinstrumenten und -techniken bestmöglich ausgestattet, besser als jede gegenwärtige Phantasie es uns ausmalen kann, ändert sich an dieser Sachlage nichts. Das heißt, dass menschliches Entscheiden und Handeln aus der Erkenntnisperspektive des Handelnden selbst vor dem Zeitpunkt des aktuellen Geschehens unweigerlich als nicht endgültig festgelegt gelten müssen.

      Der sachliche Kern des wichtigsten Arguments, welches zeigt, dass eigenes Wählen und Tun für jeden Menschen in einem strengen Sinn unvoraussagbar sind, lässt sich so wiedergeben: Jede Voraussage eigenen Entscheidens und jeder erlebte bzw. zur Kenntnis genommene Rechenvorgang, auf den sich eine solche stützt, sind bewusste Ereignisse in dem Subjekt, das eine Voraussage über eigenes künftiges Handeln macht. Sie können also auf dieses Subjekt und vor allem auf die Richtung seines Wählens und Tuns direkt oder indirekt einen Einfluss ausüben. Dieser Einfluss, der von einer Voraussage bzw. Vorausberechnung eigenen Entscheidens und/oder Tuns ausgehen kann, muss als möglicher kausaler Faktor in der besagten Rechnung und Voraussage wiederum berücksichtigt werden. Es wird also eine Überlegung oder Rechnung höherer Stufe erforderlich, die dies Berücksichtigen der ersten Voraussage-Rechnung leistet. Natürlich bildet diese Rechnung höherer Stufe einen weiteren möglichen Einflussfaktor, der seinerseits in das rechnerische Gesamtbild einbezogen werden muss. Und so fort ins Unendliche. Es ist prinzipiell und endgültig unmöglich, einen Einfluss voraussagender bzw. vorausberechnender Überlegungen einer Person auf eigenes künftiges Wählen und Handeln mit Sicherheit auszuschließen. Ob man hier von Rechnen spricht oder von anderen Weisen erkenntnisbegründender Voraussage, ist sekundär; der unendliche Regress ergibt sich in jedem Fall beim Versuch perfekter Selbst-Voraussage. Hermann Weyl konnte, als er nach stundenlanger Beratung mit seiner Frau auf die Straßenbahn sprang, um per Telegramm die Annahme des Göttinger Rufes zu erklären, unmöglich mit Sicherheit wissen, was genau er telegraphieren würde. Faktisch telegraphierte er das Gegenteil dessen, wozu er beim Sprung auf die Straßenbahn noch entschlossen war: eine Ablehnung.

      Die Unvoraussagbarkeit aus der Perspektive des handelnden Subjekts bleibt auch erhalten, wenn man annimmt, es gebe einen äußeren Beobachter mit perfekter Erkenntnisfähigkeit, und dieser teile dem Subjekt seine »objektiv« gewonnene Voraussage mit. Zunächst gilt, dass es auch für den Beobachter Objektivität im strengen Sinn nicht gibt, denn er kann nie sicher sein, ob er etwa beim Sammeln seiner Daten auf den beobachteten Prozess eingewirkt und dessen Richtung verändert hat. Vor allem aber stellt jede Übermittlung von Beobachtungsergebnissen an die beobachtete Person unweigerlich einen Faktor dar, der potentiell, ja wahrscheinlich auf ihre Wahl einen Einfluss ausübt. Dieser Einfluss müsste wieder in einer höheren Kalkulation berücksichtigt werden. Würde man deren Resultat der Person mitteilen, könnte dies gleichfalls sie in ihrem Tun beeinflussen – und so fort ins Unendliche.

      Die Kurzformel für diese folgenreiche Erkenntnis lautet: Wir können unsere Handlungen nicht sicher voraussagen, wir sind ihrer erst sicher, wenn wir sie getan haben. Und, auf die handlungsgerichtete Entscheidung bezogen: Wir können unsere Entscheidungen nicht sicher