Professoren an der LMU München, an die er sich später noch erinnerte: der Anglist Josef Schick (oben), der deutsch-jüdische Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg (Mitte) und der Kunsthistoriker und Antisemit Wilhelm Pinder.
Es ist wohl anzunehmen, dass Schirach Vossler im Salon von Geheimrat Josef Schick, der wie sein Vater aktives Mitglied der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft war115, kennengelernt hat. Schick selbst hatte zwei Jahre in England studiert und war ein ausgezeichneter Mathematiker und habilitierter Anglist. Von 1896 bis zu seiner Emeritierung 1925 lehrte er an der LMU München. Er war ein weitgereister Gelehrter, der auch 1911/12 an der Columbia University in New York unterrichtet hatte und mit einer Engländerin verheiratet war. Trotz seines hohen Alters – Schick wurde 1859 in Rißtissen bei Ulm geboren –, meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg und war durchaus deutschnational eingestellt.116 Schick wohnte in der Ainmillerstraße 4 in München und lud auch den jungen Baldur von Schirach zu diversen Treffen in seine Wohnung ein.
So berichtete Victor Klemperer in seinem Revolutionstagebuch 1919 über einen Besuch mit seiner Frau Eva Schlemmer, einer Konzertpianistin, bei Schick, dessen Vorlesungen er schon 1902 gehört hatte. Da aber nur dessen Frau, Mary Schick, geborene Butcher, zu Hause war, entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden Frauen, bei dem Frau Schick meinte: »… ob wir denn wirklich dächten, daß die Engländer den Krieg gewollt hätten? So wenig wie die Deutschen, so wenig wie die Franzosen seien sie blutgierig gewesen, niemand, nein niemand habe dieses Morden auf dem Gewissen außer ganz allein die Juden, denen allein er Gewinn gebracht habe. Wir sahen die alten Damen in schweigender Verblüfftheit an, sie nahm es für Mitgefühl und predigte weiter über die schwesterliche Verbundenheit aller weiblichen Herzen.«117 Der habilitierte Romanist Klemperer, der konvertierter Jude war, registrierte den Antisemitismus im Hause Schick bereits um 1919.
Der Historiker Hermann Oncken, der zwar vaterländisch eingestellt war und 1915 bis 1918 im badischen Landtag als nationalliberaler Abgeordneter tätig war, passte eigentlich so wie Vossler nicht in das antisemitisch-völkische und antidemokratische Umfeld Schirachs. Oncken galt als »Vernunftrepublikaner«. Gleichzeitig votierte er wie viele andere bereits vor 1933 für den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich und wäre deswegen 1923 fast an die Universität Wien gegangen.118 1929 hielt er in Berlin eine Gedenkrede »aus Anlass des 10-jährigen Bestehens der Weimarer Verfassung«.119 Oncken versuchte, den Brückenschlag zwischen Sozialdemokratie und dem Bürgertum, aber auch zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik zu propagieren. Damit wollte er die Studenten für den demokratischen Nationalstaat, die Weimarer Republik, gewinnen – durch eine Art »organische Verbindung« zwischen »deutscher Vergangenheit und deutscher Zukunft«.120 Nach 1935 überwarf er sich mit den Nationalsozialisten, deren antisemitisch-rassistisches Geschichtsbild er nicht teilte, und wurde daher zwangspensioniert.121
Die letzte interessante Persönlichkeit aus seiner Studienzeit war der deutsch-jüdische Ägyptologe Wilhelm Spiegelberg, der zum Protestantismus übergetreten war und seit 1923 den Lehrstuhl für Ägyptologie in München leitete.122 Er ist der einzige Wissenschaftler jüdischer Herkunft, den Schirach in seinen Memoiren nennt. Spiegelberg, der 1930 nach einer Operation verstarb, fühlte sich voll assimiliert und zeigte sich »bestürzt« über das »auffällige, oft herausfordernde Gehaben mancher Juden« auf der Straße und beklagte das Make-up und die »übertriebene« Kleidung jüdischer Frauen.123
Baldur von Schirachs intellektuelles Netzwerk in und außerhalb der Ludwig-Maximilians-Universität in München verstärkte den Weimarer Grunddiskurs in Richtung Antisemitismus, Deutschnationalismus und Demokratiefeindlichkeit, trotz der genannten zwei Ausnahmen Oncken sowie vor allem Vossler. Kaum vorstellbar, dass Schirach wirklich von Vossler beeindruckt war.
Aber noch wichtiger für Ausbau und Festigung der politischen Netzwerke aus Familie und Weimarer Umfeld waren die intensiven Kontakte, die der junge NS-Karrierist im Salon von Elsa und Hugo Bruckmann knüpfte.124 Elsa Bruckmann, geboren 1865 im oberösterreichischen Traundorf bei Gmunden, war die Tochter des ehemaligen königlich-bayerischen Ulanenoffiziers Fürst Theodor Cantacuzène und damit Nachkommin eines alten griechisch-byzantinischen Fürstengeschlechts. Ihre Mutter Caroline Gräfin Deym von Střitež stammte aus böhmisch-österreichischem Uradel. Die »Prinzessin« hielt sich 1893/94 als Gast der jüdischen Familie Todesco in Wien auf und lernte hier den jungen »Buben« Hugo von Hofmannsthal kennen.125 Mit ihm stand sie bis 1924 in teilweise engem Kontakt, die schwärmerische Beziehung zu ihm sollte der Dichter später als »Flirtation« abtun.
Nachdem sie 1898 im Alter von 33 Jahren den bürgerlichen Münchner Kunstbuchverleger Hugo Bruckmann geheiratet hatte, eröffnete sie im Jänner 1899 im Neubau des Bruckmann-Verlags in der Nymphenburgerstraße 86 ihren Münchner Salon mit einem Leseabend Chamberlains. Elsa Bruckmann war eine sehr kunstsinnige und belesene Frau, die Abende in ihrem Salon – ab 1909 im Prinz-Georg-Palais am Karolinenplatz 5 – wurden zu einer Art von Netzwerktreffen zwischen Künstlern, Literaten, Theaterleuten und Wissenschaftlern, aber auch Politikern und antisemitischen und deutschnationalen Ideologen wie eben Chamberlain. Unter der bunten Schar ihrer Gäste befanden sich so bekannte Persönlichkeiten wie Rainer Maria Rilke, Heinrich Wölfflin, Rudolf Kassner, Hermann Graf Keyserling, Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Harry Graf Kessler, Alfred Schuler, Georg Simmel, Hjalmar Schacht und ihr Neffe Norbert von Hellingrath. Sie alle wetteiferten miteinander auf der Suche nach den Leitlinien und maßgeblichen Inhalten der Moderne in der Phase der ersten Turboglobalisierung.
Während des Ersten Weltkriegs radikalisierte nun dieser bürgerliche Netzwerkknoten den bereits vor 1914 vorhandenen aggressiven Deutschnationalismus und völkischen Antisemitismus: Die Suche nach einem starken Mann, der Deutschland, aber auch Europa, aus der Krise und Bedeutungslosigkeit führen könnte, trat in den Vordergrund. Dadurch sollte auch die Frage nach der Moderne endgültig geklärt und entschieden werden. So war es kein Zufall, dass Hugo Bruckmann ein früher Verehrer des italienischen faschistischen Diktators Benito Mussolini war – wie übrigens kurze Zeit auch Hugo von Hofmansthal. Dieser entwickelte letztlich seine eigene autoritäre Ideenwelt mit dem Modell einer »konservativen Revolution«, die er bei einem Vortrag in München 1927 vorstellte.
In der großzügigen Wohnung der Bruckmanns am Karolinenplatz 5 stellte Elsa Bruckmann am 23. Dezember 1924 den erst zwei Tage vorher aus der Festungshaft entlassenen gescheiterten Putschisten Adolf Hitler erstmals ihren Gästen aus der bürgerlichen Gesellschaft Münchens vor. Begeistert erinnerte sich später die Verlegergattin: »Nun trat mir – in der bayerischen kurzen Wichs und gelbem Leinenjöpperl – Adolf Hitler entgegen: einfach, natürlich und ritterlich und hellen Auges!«126
In diesem kulturellen Umfeld – Elsa und Hugo Bruckmann hatten inzwischen die Vorzeige-NSDAP-Mitgliedsnummern 91 und 92 erhalten – schaffte es Baldur von Schirach, seine persönliche Nähe nicht nur zu Adolf Hitler zu vertiefen. Später zog er aus seiner Studentenwohnung in der Franz-Josef-Straße in Schwabing in eine komfortablere Wohnung bei den Bruckmanns in der Leopoldstraße 10 um, die ihren Salon Anfang 1931 vom Karolinenplatz hierher verlegt hatten. Im dritten Stock des großzügigen Gründerzeitbaus gelegen, bot sich von seinem neuen Zuhause der Blick auf das Münchner Siegestor.
Die Bruckmanns kannten Baldur von Schirachs Onkel, Friedrich Wilhelm von Schirach, Rittmeister a. D., der nach dem gescheiterten Putschversuch von Hitler und Ludendorff beim Prozess aussagen musste. Als Bezirksführer bei den Vaterländischen Verbänden Münchens hatte er Informationen über den geplanten Marsch auf Berlin des Reichsstaatskommissars Gustav von Kahr sowie zur Verhaftung von General Ludendorff.127 Friedrich Wilhelm von Schirach, der noch im selben Jahr des Prozesses 1924 starb, war in München ein Begriff – auch als Komponist.
Ein zufälliges Zusammentreffen mit Hitler Mitte November 1927 – an den Hochschulen stand die Wahl der »Allgemeinen Studentenausschüsse« bevor – wurde zum Auslöser für die Karriere Schirachs als Studentenvertreter: Nach einigem Hin und Her ließ sich der »Führer«, der seinen jungen Adepten zu einem Gespräch mit in die Wohnung in der Thierschstraße 41 genommen