Der Begriff ist weiterhin da, und er steht auch weiterhin in unseren Ritualen und Texten. Aber wir verwenden ihn in anderer Bedeutung als der, in der er ursprünglich verwendet worden ist. Und daher sind wir nicht in der Lage, das ursprüngliche Ritual mit denselben Worten zu wiederholen, weil die Worte sich in ihrem Inhalt verändert haben.
Magische Beispiele
Mit magisch meine ich in diesem Zusammenhang Begriffe, die eher nicht der physischen Welt unterworfen sind. Ein typischer Begriff wäre der Begriff der Seele. Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat die Seele ihren Platz im Körper verloren. Unsere wissenschaftliche Sichtweise des Körpers lässt keinen Platz mehr für ein unerklärtes Organ, die Seele kann also nicht im Körper materiell existieren. Da wir Menschen aber weiterhin wissen wollen, was hinter der letzten Grenze kommt, verlagern wir unsere Suche nach dem Jenseits in den Bereich der Nahtoderfahrung und verwandeln dadurch die Seele in ein immaterielles Organ89.
Das kleine Volk wird von uns entrückt und unserem Lebenszusammenhang entrissen. Wir glauben nicht mehr daran, dass Kobolde in unserem Haus wohnen, Feen in den Büschen nisten oder Zwerge in unseren Hügeln hausen. Die nichtmenschlichen Völker, seit Jahrhunderten mythologische Partner und Freunde der Menschen, werden uns fremd.
Ebenso verschwinden die Halbmenschen (Werwolf, Vampir, Satyr, Kentaur usw.) – entweder werden sie wissenschaftlich gedeutet und damit entmystifiziert90, entlarvt91 oder aber lächerlich gemacht.
Und letztendlich bleibt die Frage, was mit jenen magischen Wesen geschah, die wir fast komplett aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Es sind überraschenderweise die alchemistischen Figuren, die unser wissenschaftliches 20. Jahrhundert ausgemerzt hat. Wo verbergen sich Phönix, Basilisk, Greif, Einhorn und Salamander vor unseren Blicken?
e. Alternativen für die Zukunft
Wenn wir einen Verlust der Bindung von alten Bildern an magische Energie postulieren oder einfach behaupten, dass eine Veränderung der gesellschaftlichen Umstände auch in einer Veränderung der für Religion und Kult benutzten Bilder resultieren muss, so ist es unumgänglich, dass wir uns überlegen, welche Alternativen sich im Umgang mit dieser Situation bieten. Es gibt drei unterschiedliche Alternativen, die ich kurz vorstellen will.
1. Wir bleiben stur bei den alten Bildern, obwohl sie an Macht verlieren werden. Ich würde dies die Vogel-Strauß-Politik nennen, weil sie die Veränderung der Umstände einfach ignoriert und die Rückkehr in ein goldenes, mythisches Zeitalter zu postulieren scheint, in dem alles gut war und Magie immer funktioniert hat.
Leider ist es so, dass die hier verwendeten Bilder weiterhin an Macht verlieren werden. Die Bindung zwischen Bild und Bedeutung wird schwächer, das Band zwischen mentaler, magischer Assoziation und weltlicher Bedeutung wird immer dünner werden, bis es eines Tages zerreißt. Und umso mehr Bänder zerreißen, umso dünner und schwächer wird der Strang, der Mythos und Kult, der Glauben und Religionsausübung, Theorie und Praxis miteinander verbindet.
Die Ausbildung von neuen Funktionsträgern ist in dieser Alternative sehr schwierig, da die verwendeten Bilder schwächer sind als auf der Hand liegende Alternativen aus der Gegenwart. Potentielle Schüler werden sich – außer sie sind unheilbar romantisch … – eher für eine der anderen Alternativen entscheiden.
Die Zukunft für diese Alternative ist sehr fraglich, da sie immer in der Gefahr leben wird, konservativ statt konservierend zu arbeiten und in die volkstümelnde (faschistische?) Ecke abzurutschen.
2. Wir suchen uns völlig neue Bilder. Ich nenne dies die coole Lösung, weil sie immer versucht, einem magischen Zeitgeist hinterherzuhecheln, der genau einen Schritt vor uns herläuft.
Doch die hier benutzten Bilder haben eventuell nur kurzzeitig Macht; sie gelten zwar für unsere Zeit, aber nicht für die vorgehergehende Epoche und wahrscheinlich auch nicht für die folgende Epoche.
Die Ausbildung von Nachwuchs ist schwierig, da nicht garantiert werden kann, dass die Bilder noch in 50 oder gar 100 Jahren Macht besitzen. Und sicherlich kommt irgendwann im Laufe einer Ausbildung auch die Frage, wie man die Sicherheit solcher Bilder überhaupt garantieren will. Da es neue Bilder sind, deren Bedeutung erst in dieser Generation so signifikant geworden ist, dass sie für Magie eingesetzt werden können, kann man nicht aus ihrer Herkunft auf eine glorreiche Zukunft schließen. Die vom Schüler erwünschte magische Sicherheit ist nicht herzustellen. Überhaupt ist hier die Mystifizierung schwierig. Man vergleiche nur den Mythos hinter klassischen/modernen Alternativen wie Strom und Stecker mit Licht und Fackel, oder Pistole und Macht mit Messer und Macht.
Natürlich ist diese Richtung sehr hip, aber es erinnert mich immer ein wenig an moderne Freizeit-Rollenspieler a la Shadowrun oder Film-Freaks, die auch brav Matrix und Highlander sehen, bis sie die Dialoge mitsprechen können.
Die Zukunft dieser Alternative ist nicht vorhanden, da sie keine Vergangenheit hat und haben will. Doch der, der außerhalb der Zeit rein im Moment leben will, wird die Vergangenheit verlieren und die Zukunft nie kennenlernen.
3. Wir entschlacken die alten Bilder und versuchen herauszubekommen, was wirklich hinter den Bildern steht. Dieses gefundene wahre Ding transferieren wir dann in die Gegenwart und suchen uns ein zeitgerechtes Bild. Passend zu Platons Höhlengleichnis und seiner wahren Welt könnte man dies Platons Lösung nennen.
Ich halte dies von den drei vorgeschlagenen Lösungen für die sinnvollste Lösung. Sie verlangt Interesse an Vergangenheit und (!) Zukunft, eine Einbindung in Traditionen und einen Ausblick in die Zukunft.
Diese Lösung macht Ausbildung möglich, obwohl hier gefundene Bilder im Einzelfall schwächer sein können als neue Bilder (siehe Alternative #2) oder alte Bilder (siehe Alternative #1). Aber im gesamten Überblick wiegen die Vorteile dieser Lösung die Nachteile gegenüber den beiden anderen Alternativen bei weitem wieder auf.
Ich habe eben bei der Beschreibung der dafür nötigen Technik den Begriff transferieren gebraucht. Ich halte diesen Transfer für einen der wichtigsten Begriffe bei der Diskussion des Zusammenhangs zwischen Magie und Religion. Wir brauchen den Transfer von Bedeutungen und Begrifflichkeiten in die Gegenwart. Aber dieser Transfer wird bei magischen Gegenständen/Gebräuchen schwierig. Er kann eigentlich nur bei Religionen funktionieren, weil hier die Überlieferungslage besser ist und der Glauben einfacher zu erlangen ist als magische Ergebnisse (hier geht es um den Widerspruch zwischen subjektiver und objektiver Erkenntnis). Mit anderen Worten: Ich brauche einen Transfer von Bedeutungen in reale Gegenstände, um für ein Ritual – nein: für Magie allgemein – eine der Gegenwart entsprechende Darstellungsform zu finden. Dieser Transfer fällt mir einfacher, wenn ich einer religiösen Umgebung entstammte, weil Religion und Glauben sowieso den Transfer von Inhalten beinhalten. Wir müssen jetzt nur noch diese Transferleistung auf die Magie übertragen.
2. Zur Religion
a. Das Christentum
Es ist auch unter Heiden inzwischen unkritisch: Das Christentum ist die prägende Religion des Abendlandes, ist der Kulturträger der letzten zweitausend Jahre für Mitteleuropa. Was man auch immer über die Untaten des Christentums oder die eigenen theologischen Probleme mit dem Gotte-hochgenagelt92 haben mag, ohne das Christentum gäbe es unsere abendländische Musik nicht, unsere lateinische Schrift nicht, keine Kathedralen und keine Territorialstaaten.93 Das Christentum erklärt unsere Erziehung, färbt viele der Bilder vor, die wir für Magie und Religion benutzen und wieder für uns mit Beschlag belegen wollen. Schon allein aus diesem Grunde ist die Auseinandersetzung mit dem Christentum für unseren Glauben von Bedeutung. Viele unserer Bilder sind zwar heidnischen Ursprungs, doch christlich verbrämt. Wenn wir nicht in der Lage sind, den christlichen Anteil zu definieren, dann können wir ihn auch