Wenn man Meyrink verstehen will, muss man einige der ihn prägenden Elemente kennen. Das wichtigste war sicherlich Prag und dort die Prager Kreise; Literatentreffen, an denen Meyrink z.T. beteiligt war. Ich habe mich in meiner Einteilung fast nur auf Brod gestützt, weil er die ausführlichsten Schilderungen gibt.
Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Vertreter hatten die Prager Kreise drei unterschiedliche Prägungen gemeinsam.
Die erste Prägung war das in Prag existierende Spannungsfeld zwischen Judentum, Tschechentum (Panslawismus) und Deutschtum (Österreich-Ungarn, und damit auch Deutschland). Alle drei Faktoren hatten einen starken Einfluss auf die Mitglieder der Prager Kreise, und alle drei Einflüsse konnten nur in Prag gleich wirken, machten diese Stadt so zu einem einmaligen Zentrum dreier Kulturen. Besonders beeindruckend ist der Einfluss der jüdischen Kultur auf das Prag dieser Zeit: „The position of the Jews inside the cultured German stratum of Prague was strange enough in itself; but the concentration of Jews among the exponents of German culture was from any point of view striking.“32
Die zweite Prägung ist das gleichzeitige Auftreten von so vielen Literaten von Weltrang in einem engen zeitlichen und räumlichen Abstand. Die Prager deutsche Literatur ist in ihrer Konzentration nur verständlich, wenn man sich Prag wirklich als „literarische Insel“33 denkt – Prag zog die Literaten an, das Umfeld formte sie. „Das Phänomen der Prager deutschen Literatur oder besser gesagt der Prager deutschsprachigen Literatur fesselt die Aufmerksamkeit der Literaturforscher und der Leseröffentlichkeit bereits eine Reihe von Jahrzehnten. Diese Literatur repräsentiert nämlich den allerwichtigsten Komplex von Werken der Literatur, der je außerhalb der Grenzen des geschlossenen deutschen Sprachgebietes entstanden ist.“34
Die dritte Prägung ist der Einfluss der alten Kaiserstadt Prag selbst: „(…) der Aspekt Prags in der deutschsprachigen Literatur ist ausgesprochen phantasmagorisch; die Stadt ist eine Brutstätte nicht greifbarer Geheimnisse und bedrückender Mysterien, ein Vampir, der die deutsche Seele mit gorgonischem Grauen lockt wie einst Karthago die römischen Söldner; … ein kompliziertes Gefühl, das die deutsche Terminologie Hassliebe nennt und das ein typisch erotisches Erlebnis ist: Prag selbst ist ein mit Hass geliebtes weibliches Wesen.“35 Wagenbach spricht von der „Prager Treibhausluft“, in der „Arbeiten von monströser Erotik und schwüler Sexualität“ entstanden.36
a.) Concordia und Jung Prag
Dieser Kreis entstand aus den Reihen der Concordia – einer Gruppe von Literaten, die sich in den 1880ern trafen. Zu ihr gehörten u.a. der Dichter Hugo Salus (geb. 1866) und Fritz Mauthner.37 Aus diesem ersten Literatenzirkel entstand Jung Prag. Dieser Kreis existierte seit 1894, festgemacht am Erscheinen von Rilkes erstem Versband Leben und Lieder.38 Dieser Kreis scharte sich um Paul Leppin. Mitglieder waren u.a. Victor Hadwiger, Oskar Wiener, Richard Teschner, Karl Wilfert, Rainer Maria Rilke, Friedrich Adler, Hugo Salus, Emil Faktor, Heda Sauer und Hugo Steiner-Prag.39
In diesem Kreis tauchte auch zum ersten Mal Gustav Meyrink auf. Über sein Auftauchen und den Kreis im allgemeinen schrieb Steiner-Prag: „Es waren merkwürdige Jahre, die wir damals erlebten, wir, ein kleiner Kreis engbefreundeter junger Schriftsteller und Künstler, in deren festgefügte Gemeinschaft Sie eines Tages unerwartet eintraten. Wir staunten Sie an, Sie, den viel älteren, der schon äußerlich so wenig zu unserem etwas formlosen und überschäumenden Bohemetum passte, und wussten zunächsten noch nicht, was Sie (…) in unseren Kreis führte.“40 Auch Marzin erwähnt, dass Meyrink an diesen Treffen teilgenommen hat41 – neben Brod eine notwendige zweite Quelle. Im Zusammenhang mit der Kafka-Beschreibung stellt sich bei Brod eine Tendenz heraus, besonders Kafka zu überhöhen. Dies führt auch dazu, dass er Randfiguren – so sieht er offensichtlich Meyrink – nur wenig behandelt.
b.) Der Prager Kreis
Dieser Kreis, auch Engerer Prager Kreis oder Triumvirat (wegen Brod, Weltsch und Kafka) genannt, ist eigentlich Der Prager Kreis schlechthin. Er existierte von ca.1904 bis 1939. Ab 1908 waren die Treffen im Cafe Central, bald kam ein Wechsel ins Cafe Arco. Über das Arco sagte man „[u]nd es kafkat und werfelt und brodelt und kischt.“42 Die zentrale Figur dieses Kreises war Max Brod. Außer ihm zählten noch Felix Weltsch, Oskar Baum, Franz Kafka, Ludwig Winder, auch Egon Erwin Kisch, Paul Leppin, Rainer Maria Rilke und Hugo Bergmann zu diesem Kreis.
Zur Idee des Prager Kreises schrieb Brod: „Auch dass wir keinen Lehrer und kein Programm hatten (…). Es sei denn, dass man Prag selber, die Stadt, ihre Menschen, ihre Geschichte, ihre schöne nahe und ferne Umgebung, die Wälder und Dörfer, die wir eifrig in Fußmärschen durchwanderten, als unseren Lehrer und unser Programm ansehen will. Die Stadt mit ihren Kämpfen, ihren drei Völkern, ihren messianischen Hoffnungen in vielen Herzen. – Dazu trat die Bibel in ihrer Ursprache, Homer, Platon, Goethe, Flaubert. Ein Kult der Wahrheit und der unverfälschten Natürlichkeit, die wir (im Gegensatz zu den Zieraten der Neoromantiker) verehrten und suchten.“43
c.) Nachwehen
Auch wenn die Literatentreffen in Prag erst 1939 endeten, so bildete der 1. Weltkrieg doch eine Zäsur, der 2. Weltkrieg und der Holocaust dann das Ende. Nach dem 1. Weltkrieg gab es noch eine Art „letzten Prager Kreis“, jedoch nicht in Prag, sondern in Wien. Hier fanden seit 1922 wieder Literatentreffen statt, im Cafe Herrenhof. Teilnehmer waren u.a. Ernst Pollak, Franz Werfel, Otto Pick, Egon Erwin Kisch, Otto Groß und Franz Kafka.44
3. Meyrinks Werke
a.) Artikel
Meyrinks Werk lässt sich in zwei Teile unterteilen – seine Sach-Artikel und seine phantastischen Geschichten. Bis auf wenige Ausnahmen prägten zwei Themen Meyrinks Gesamtwerk, Artikel wie Geschichten. Auf der einen Seite war dies die Stadt Prag. Darunter zählt bei den Artikeln z.B. Die geheimnisvolle Stadt oder – der wegen seinem Titel als Charakterisierung Prags bekannte – Artikel Die Stadt mit dem heimlichen Herzschlag45. Diesen Artikeln ist zu eigen, dass sie Prag mit einer fast zärtlichen Sprache beschreiben und geschichtliche Ereignisse aus der Prager Vergangenheit mit einer Lebendigkeit beschreiben, die in der Literatur selten ist.
Der zweite Teil seiner Artikel widmet sich einem anderen Meyrinkschen Lieblingsthema, dem Okkultismus. Meyrink beschäftigte sich seit seiner Prager Zeit mit dem Okkultismus im weitesten Sinne, so z.B. mit der Golden Dawn, einer Rosenkreuzer-Gruppe, diversen – auch christlichen – Gurus & Hochstaplern und den Anthroposophen.46
Sein Interesse an den Anthroposophen zieht sich durch sein ganzes Werk, und es finden sich bei ihm viele Artikel über die Anthroposophie selbst, aber auch über Madame Blavatsky, Krishnamurti und die späteren Anthroposophen-Absplitterungen. In diesen Artikeln zeigt sich ein ausgesprochen starker, weil spitzzüngiger, fast bösartig sarkastischer Meyrink.
Er selber war von vielen Okkultisten enttäuscht. Da er selber sich ernsthaft mit Okkultismus beschäftigte, waren ihm gerade die Anthroposophen und ihre vergorene Weltsicht zuwider.
Meyrink hielt das Aufkommen des Okkultismus für einen Wink des Lotsen, einer mythischen engelsähnlichen Figur, die in gewissen Weltepochen eingreift. „Die Wendung vom Satiriker zum Metaphysiker war bedingt durch äußere und innere Erlebnisse. Solange Meyrink bloß das Leben eines wohlhabenden Prager Bankiers führte, eines Lebemannes, der durch seine Affären die bürgerlichen Kreise schockierte, wo er nur konnte (…), traf sein Spott zwar wunde Stellen des Lebens, aber das innerste Wesen des Gefüges erkannte er noch nicht.“ Dies geschah erst dadurch, dass – als Meyrink sich eines Tages im Alter von 23 Jahren erschießen wollte – just in diesem Moment ein Heft über Spiritismus unter der Tür durchgeschoben wurde, natürlich vom geheimnisvollen Lotsen!47
Ebenso glaubte er an das regelmäßige