Er ließ sich in den Staub fallen, schnallte den Rucksack ab, zog Schuhe und Strümpfe aus und richtete sie zum Trocknen in der Sonne aus. Aus einer Seitentasche holte er ein Baguette, in das er eine Salami hineingestoßen hatte, und eine Flasche Wein.
»Trinkst du was mit?«
Der Brasilianer schmunzelte: »Du bist der einzige, der eine Skijacke und eine Weinflasche auf dem Camino mit sich herumträgt«, und er griff nach der hingehaltenen Rotweinflasche und führte sie zum Mund, um sie dann an seine Patienten weiterzureichen.
Die Schweizerin, eine blonde Frau von Mitte vierzig, nahm die Ohrstöpsel heraus und sah ihn eindringlich an.
»Ist euch auch dieser Pilger vom Mittelaltermarkt begegnet?«, fragte sie in Deutsch mit starkem Akzent. »Er trägt immer noch dieses Kostüm von diesem Markt. Ist ohne einen Penny in der Tasche einfach losgegangen! Grauenvoll sieht er aus. Mir lief es eiskalt den Rücken runter! Ich bin sicher, der hat jemanden umgebracht. Der läuft den Camino sein Leben lang, ganz sicher!«
»What she say?«, fragte der Brasilianer und schaute sie verständnislos an.
»She has seen the death himself«, antwortete er schmunzelnd und sah den Weg hinunter.
Er stand wieder auf, schnürte seinen Rucksack: Erst die Schultergurte, dann den Hüftgurt, dann lockerte er wieder die Schultergurte, so dass das Gewicht fast nur auf der Hüfte ruhte.
»See you later«, sagte er und ging los. Jede kleine Pause bringt einen aus dem Tritt und es dauert Minuten, bis das Gehen wieder zum Automatismus wird.
»When I get to heaven, tie me to a tree, or I’ll begin to roam and soon you know where I will be. I was born under a wand’rin star, a wand’rin, wand’rin star …«
Gleich würde er es geschafft, würde er das Tagesziel erreicht haben. Die Spanier mit den Maultieren waren vermutlich schon im nächsten Ort angekommen und damit beschäftigt, ihr Zelt in der Nähe der Herberge aufzuschlagen. Er aber würde seinen Hut auf ein Bett werfen, den Schlafsack zum Lüften ausrollen, Schuhe und Strümpfe ausziehen, Duschen gehen. Bald würde es beginnen, das Schnarchen und Seufzen, das Knarren der Etagenbetten und ab vier, fünf Uhr morgens das Rascheln der Schlaf- und Rucksäcke und der Plastiktüten.
Die wahren Qualen des Weges liegen nicht auf dem Weg selbst, sondern in den Schlafsälen.
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»Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht.«
Hermann Hesse, 1877 -1962
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»Hinter unserem Dasein steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, dass wir die Welt abschütteln.«
Arthur Schopenhauer, 1788 – 1860
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Isaban Sabine Römmer-Speer
Wohl und Wehe
Die nebligen Rinder zergehen zu Schemen,
der Waldschattenriss wird zum Dunkel im Grau,
ein Irgendwas scheint alles Leben zu lähmen,
doch selbst dieses Irgendwas ist ungenau;
den Hang hinab wuchert ein Allerleirauh.
Du kennst alle Regeln und kannst dich benehmen,
du liebst frischen Spargel und hasst Kabeljau,
gebildet bist du, jeder hält dich für schlau;
des Nachts träumst du wild, Wildes muss man bezähmen,
so übst du seit Jahren tagtäglich Kotau.
Die nebligen Rinder zergehen zu Schemen,
der Waldschattenriss ist ein Dunkel im Grau,
dein Alltag ist Droge und weiß dich zu lähmen;
du wünschst dir so viel, doch entsagst dir, zu nehmen
und das, was du hast, schmeckt entsalzen und lau.
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»Selbst ein Weg von tausend Meilen
beginnt mit einem Schritt.«
Japanische Weisheit nach Laotse, vermutlich um 500 v. Chr.
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»Fast immer ist der richtige Weg
der schwerste.«
François Mauriac, franz. Schriftst.1885 – 1970
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Carmen Rohrbach
El Camino – Auf dem Jakobsweg durch den Norden Spaniens
Wind. Sonne. Einsamkeit. Weit dehnt sich die kastilianische Hochebene, die Meseta, bis zum Horizont. Selten ein Baum. Karge Wiesen und brachliegende Felder, auf denen Mohn und Ackersenf gedeihen. Vor allem aber Steine und nochmals Steine, als läge hier das Skelett der Erde bloß. Vom Rhythmus meiner Schritte getragen, verschmelze ich mit der Landschaft. Meine Sinne öffnen sich, nach innen wie nach außen. Ich denke kaum noch an das ferne Ziel – der Weg selbst ist zum Ziel geworden.
Aus der flimmernden Mittagsglut taucht die Gestalt eines Mannes auf. Schwer stützt er sich auf einen Stock, trägt einen Hut mit breiter Krempe und einen dunklen Umhang. Wie das Monument eines mittelalterlichen Pilgers steht er reglos da. Als ich mich nähere, erkenne ich, dass er eine Schafherde bewacht.
»Suerte por el camino, peregrina!«, wünscht er mir Glück und bittet: »Bete für mich in Santiago.«
Millionen Pilger im Mittelalter
»Santiago!« – das war jahrhundertelang der Ruf der Pilger im Mittelalter, ihre Sehnsucht, ihr Ziel. Im westlichsten Gebiet Spaniens sollen im Jahr 812 die Gebeine des heiligen Jakob gefunden worden sein und dort, in der Kathedrale von Santiago de Compostela, werden sie noch heute verehrt. Niemand weiß, wie viele Menschen genau in den vergangenen Jahrhunderten auf dem Jakobsweg pilgerten. Aber dass es einige Millionen waren, ist sicher. Sie kamen aus ganz Europa von Irland bis Russland, von Schweden bis Portugal, sie kamen aus allen Richtungen. Am Ende ihres langen Weges lag der Ort der Erlösung. Kranke erhofften sich Heilung, Sünder rechneten mit Ablass, Gläubige versprachen sich Reinigung und Seelenheil. Fast war der alte Weg vergessen, da beginnt seit einigen Jahren plötzlich eine Wiederbelebung. Was kann uns heute dieser jahrhundertealte Pilgerpfad noch bedeuten? Darauf mag es viele Antworten geben. Eine davon, meine persönliche, will ich versuchen hier zu vermitteln.
Der Beginn in den Pyrenäen
Dichte Laubbäume bilden ein grünes Gewölbe. Der Pfad ist steil und ermüdend. Die erste Tagesetappe gleicht einem Kraftakt: Vom kleinen französischen Grenzort St. Jean-Pied-de-Port muss man die Pyrenäen überqueren bis auf die spanische Seite. Dreißig Kilometer und 1057 Höhenmeter gilt es zu bewältigen. Unterwegs keine Raststätte, erst im Kloster Roncesvalles gibt es ein Refugio, eine Pilgerherberge.
Der Rucksack ist schwer, die Wanderschuhe drücken – ich bin noch nicht aufs Laufen eingestellt und kann mir kaum vorstellen, wie ich den 800 Kilometer weiten Weg bis Santiago schaffen soll, wo mir die ersten Schritte bereits solche Qualen bereiten.
Vom Glauben kann ich keine Stärkung erwarten,