»Ist jemand da? Hallo?«
Der Ruf unterbricht Hannelores Träumerei. Ein wenig beschämt bemerkt sie, dass sich ihre rechte Hand in ihrem Schoß befindet. »Einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen!«, ruft sie zurück, eilt zum Waschbecken und wäscht sich die Hände.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie wenig später das junge Mädchen, das sich suchend im Laden umschaut.
»Meine Mama hat gesagt, ich soll einen Liter Milch in diese Kanne füllen. Können Sie mir bitte dabei helfen?«
*
Es hat zwar aufgehört zu schneien, doch stattdessen regnet es immer wieder in Strömen. Der Mann in der Tür schüttelt das eiskalte Wasser von seinem Regenschirm ab, bevor er die Polizeidienststelle Oldenmoor betritt. »Guten Tag! Ich komme, um eine Vermisstenanzeige zu machen, Frau Kommissarin.«
»Ich danke Ihnen für die nett gemeinte Beförderung.« Die freundliche weibliche uniformierte Erscheinung mit den rot gefärbten kurzen Haaren unter der Dienstmütze schmunzelt. »Ich bin nämlich leider nur Polizeimeister-Anwärterin. Mein Name ist Helga Timm, zu Ihren Diensten.« Als der Mann lediglich kurz lächelt, fährt sie fort: »Darf ich zunächst Ihren Namen, das Geburtsdatum und die Anschrift erfahren?«
Wortlos legt der etwa sechzigjährige rundliche Mann, der unrasiert und leicht schmuddelig daherkommt, seinen Personalausweis auf den Schreibtisch.
PMA Helga Timm liest laut vor, während sie flink die Daten zur Person in ihren Computer eingibt: »Sie sind also Herr Marius Petermann, geboren am 30. November 1953 in Brunsbüttel, hier am Ort wohnhaft in der Deichgrafstraße Nr. 17. Der Name der vermissten Person, bitte?«
»Ich bin der Wirt des Gasthofes ›Zur Lindenschenke‹, eben auch unter dieser Anschrift. Vor etwa drei Monaten mietete sich ein junger Mann aus Lübeck, ein gewisser Werner Reimers, bei mir ein. Hier ist der Anmeldezettel, den er beim Einzug ausgefüllt hat. Ich weiß nicht genau, was er hier macht, doch ich glaube, er hat irgendetwas mit der Montage der Windräder in unserer Gegend zu tun. Jedenfalls ist er ein sehr ruhiger und netter Kerl und hat stets pünktlich seine zweihundertachtzig Euro für Zimmer und Frühstück bezahlt. Bisher hat er sich unauffällig und tadellos verhalten. Als er am vorletzten und auch am gestrigen Sonntag nicht wie üblich seine wöchentliche Mietzahlung entrichtete, fragte ich Grazyna, meine polnische Bedienung, ob sie etwas über Herrn Reimers wüsste. Sie sagte mir, dass unser Gast seit dem letzten Wochenende nicht mehr zum Frühstück erschienen ist. Ich fand das merkwürdig, zumal er sich nicht abgemeldet hat. Also ging ich auf sein Zimmer und stellte fest, dass seine Kleidung ordentlich im Schrank hängt. Seine Wäsche liegt in der Kommode und die üblichen Toilettenartikel befinden sich über dem Waschbecken. Ich erkläre hiermit ausdrücklich, in seinem Zimmer nichts angerührt zu haben – ich habe nur nach Herrn Reimers gesehen. Nicht dass Sie jetzt glauben …«
»Keine Aufregung, Herr Petermann, alles ist gut! Beruhigen Sie sich. Ich finde es prima, dass Sie uns Bescheid geben. Gehen Sie bitte jetzt erst einmal nach Hause, wir schicken baldmöglichst einen Kollegen vorbei, der sich das einmal vor Ort ansieht, okay?« Als der Gastwirt nickt, fügt sie an: »Kommen Sie gut nach Hause, auf Wiedersehen. Und nochmals vielen Dank für Ihre Mühe!«
Beim Hinausgehen trifft Marius Petermann auf den just eintretenden Dienststellenleiter, Hauptkommissar Boie Hansen. Die beiden ziemlich beleibten Herren passen nicht gleichzeitig durch den Eingang, weshalb Hansen höflich grüßt und zur Seite ausweicht, um den Besucher hinausgehen zu lassen, bevor er das Revier betritt.
»Moin moin, Chef! Sie sollten besser im Bett bleiben bei der Grippe, die Sie sich eingesackt haben!« Helga Timm ist verwundert über das Erscheinen ihres Vorgesetzten.
»Was wollte eigentlich der Kneipen-Petermann von uns?«, grunzt Hansen gereizt, ohne auf die Begrüßung der Polizeimeister-Anwärterin einzugehen.
»Der hat soeben eine Vermisstenanzeige gemacht. Einer seiner Gäste, ein gewisser Werner Reimers, ist seit Tagen verschollen und hat seine Rechnung nicht bezahlt.«
»Ach so, na dann …« Hansen denkt einen Moment nach: »Einen Werner Reimers kennen wir hier doch nicht, oder? Wird sich wohl wieder einfinden. Und ja, ich gehöre tatsächlich ins Bett, aber ich habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Unser Willi hat mich gestern Abend noch zu Hause besucht und mir von dem Leichenfund am Windpark erzählt. Dabei habe ich erfahren, dass neben unserem Kollegen KOK Hauke Steffens, der ja jetzt bei der Kripo in Itzehoe ist, auch rein zufällig meine liebe Nili Masal, ihres Zeichens Kriminalhauptkommissarin beim LKA in Kiel, am Tatort war.« Trotz seiner triefenden Nase kann sich Hansen eines genüsslichen Lächelns nicht erwehren. »Ich kann mir bis ins Detail vorstellen, was für ein Donnerwetter unser Hein Gröhl losgelassen hat, als er erfuhr, dass jemand vom LKA dabei gewesen ist!« Er setzt sich an seinen Arbeitsplatz und grient vor sich hin. »Ja, ja, die Nili! Wir haben sie hier sehr gemocht, sie ist eine kluge Deern und macht sich, wie man hört, auch beim LKA sehr gut.«
Wie auf ein Stichwort betritt Nili die Polizeidienststelle. »Einen wunderschönen – wenn auch kalten und nassen – guten Morgen allerseits!«
»Segg ick doch, Helga!« Boie Hansen steht auf und geht freudestrahlend auf Nili zu. »Wenn man vum Düvel schnacken deit!« Beide umarmen sich herzlich. Dann besinnt er sich seines Schnupfens und schiebt Nili behutsam von sich weg. »Go forts wiet aff vun mi, Deern, ick bün arg verköllt.« Dann stellt er Nili der Polizeimeister-Anwärterin vor.
Im Laufe der nun folgenden Unterhaltung lenkt Nili geschickt das Gespräch auf den Leichenfund am Windpark. »Stellt euch vor, mein Kollege Walter Mohr und ich waren gerade beim Joggen, als der Streifenwagen der Kripo Itzehoe an uns vorbeifuhr und Hauke Steffens uns wegen des gerade einsetzenden starken Schneefalls in seinem Wagen Schutz