So viel geht Hanne durch den Kopf, während sie immer noch in ihrem Auto auf dem Bahnhofsvorplatz sitzt. Hatte sie wirklich total versagt? Bei allem? Ihr Leben ein Trümmerhaufen? Muss sie sich eingestehen, jetzt, wo ihre Kinder erwachsen sind, dass es nicht funktioniert hat? Sind sie zu kurz gekommen und werden ihr Leben lang darunter leiden, schon früh von einer Tagesmutter betreut worden zu sein? Immer am längsten im Kindergarten warten zu müssen und bereits als Schulkinder Aufgaben im Haushalt bekommen zu haben?
Hanne lässt den Motor an. Das Radio spielt ‚Nur Steine leben lang‘ von Hans Hartz. Sie wird einen Brief schreiben an Lisa, wird ihr mitteilen, wie sehr es sie verletzt, dieses „Rabenmutter“. Warum sie sich damals für Arbeit und Kinder entschied. Dass es erst notwendig war und dann ein Stück Unabhängigkeit bedeutete. Wie glücklich sie mit ihren Kindern war und wie stolz auf sie. Aber auch, wie sie ihren Beruf liebte und wie viel Kraft und Stärke ihr dieser gab und damit doch der ganzen Familie zugute kam. Sie wird Lisa daran erinnern, dass sie in der Natur auf dem Land leben konnten und jedes Kind Tiere haben durfte. Dass sie trotz der knappen Zeit an den Wochenenden Ausflüge unternahmen und gemeinsam backten und kochten.
Sie hatte immer versucht, alles so gut wie möglich zu machen. Dass manches sich im Nachhinein als nicht optimal herausstellte, lag wohl im Risiko der Entscheidung.
Sollte Lisa tatsächlich vergessen haben, wie sie aufwachsen durfte, welche Besonderheiten und auch Vorteile ihr Leben hatte? Jetzt kann Lisa alles besser machen. Nach vorne schauen, die Schatten der Kindheit hinter sich lassen, damit sie keine Rabenmutter sein würde.
Übrigens sind Raben sehr gute, vorbildliche Mütter und Eltern, die ihre Kinder wärmen und fortwährend mit Futter versorgen. Wäre es nicht so, wären sie längst ausgestorben. Der üble Ruf der Raben hängt wohl mit der Bibel im Buch Hiob zusammen. Darin heißt es: „Wer bereitet den Raben die Speise, wenn deren Junge in hektischem Flug Gott anrufen, weil sie nicht zu essen haben?“
Vermutlich geht diese Geschichte auf junge Raben zurück, die aus dem Nest gefallen sind. Die betroffenen Tiere machen einen hilflosen, verlassenen Eindruck. Aufmerksame Beobachter werden jedoch feststellen, dass die Rabeneltern immer in der Nähe sind und die Jungtiere weiter versorgen. Sollte Hanne für sich den Grundsatz beanspruchen: Gehe mit anderen stets so um, wie du möchtest, dass mit dir umgegangen wird? Gerade Lisa hatte immer betont, wie wichtig und hilfreich dieser Satz für sie war, den sie schon recht früh von ihrer Mutter vermittelt bekam.
Hanne wird Lisa nicht mit gleicher Münze heimzahlen wollen. Manchmal ist es besser zu schweigen. Ausgesprochene Worte lassen sich nicht zurückholen. Sie können wie Pfeilwunden sein, die ein Leben lang schmerzen.
Kurz nach Christians Tod war Lisa ausgezogen, zum Studium nach Süddeutschland gegangen. Danach musste Hanne lernen, allein zu leben. Sie hatte gehofft, Lisa würde sich um einen Studienplatz in der Nähe bemühen, aber sie erkannte, wie befreiend dieser Ortswechsel für ihre Tochter gewesen war. Weg von den ständigen Erinnerungen an Krankheit und Tod in eine neue Zeit, eine andere Welt. Niemals hätte Hanne Kritik geübt. Sie freute sich für Lisa.
Bis zu Lisas Ankunft in Berlin wird noch einige Zeit vergehen.
Hanne macht sich im Garten nützlich, da ist immer etwas zu tun.
Dann der Anruf von Lisa. Sie sei gut in ihrer Wohnung angekommen. Sie erzählt von der Zugfahrt und wie sie um ein Haar wegen der Verspätung den Anschlusszug verpasst hätte.
Lisas Stimme zittert. Oder empfindet Hanne es nur so? Und dann hörte sie ein Schluchzen.
Erschrocken fragt sie Lisa: „Was ist passiert? Beruhige dich und sprich!“
Es dauert für Hanne unendlich lang, bis Lisa ein paar Worte herausbringt. „Er ist weg. Dennis ist weg. Er kommt nicht wieder.“
Eine kurze Stille, dann Hanne: „Lisa, du schaffst das.“
Blütengeflüster – Britta Bendixen
„Marie! Hier bin ich.“
Marie wandte den Kopf und sah ihre beste Freundin winkend an einem Tisch am Fenster sitzen.
„Hier war ich noch nie“, gestand sie, nachdem sie Eva begrüßt und sich hingesetzt hatte.
„Der Laden ist klasse“, sagte Eva. „Ich war schon oft hier.
Tolles Essen, netter Service.“
Marie sah sich um. Das Restaurant war gemütlich eingerichtet und gut besucht.
Eva beugte sich vor. „Jetzt erzähl. Wie war der Mallorca-Urlaub?“
„Sehr schön, obwohl Daniel nicht mitfahren konnte. Aber vielleicht können wir die Flitterwochen dort verbringen.“
Ein Kellner trat an ihren Tisch. Er hatte strohblonde, verwuschelte Haare und blitzende blaue Augen. „Hallo. Haben Sie sich schon entschieden?“
„Ich nehme den Blütensalat mit Putenbruststreifen“, sagte Eva. „Und ein Mineralwasser.“
„Blütensalat?“, wunderte sich Marie und überflog die Speisekarte. „Was ist das denn?“
„Oh, der ist köstlich, du musst ihn unbedingt probieren. Essbare Blüten sind der letzte Schrei.“
„Wenn du meinst … Also gut, warum nicht.“ Marie klappte die Karte zu und wandte sich an den Kellner. „Das nehme ich auch.“
„Gute Wahl“, nickte er und lächelte ihr zu.
Zwanzig Minuten später wurde das Essen serviert. Nach einem prüfenden Blick auf den bunten Teller spießte Marie eine orangefarbene Blüte auf. „Sieh mal, Eva, so eine hast du gar nicht.“
„Sicher schmeckt sie trotzdem“, beruhigte ihre Freundin sie.
Gespannt schob sich Marie die Blüte in den Mund und begann vorsichtig zu kauen. Sie schmeckte wirklich gut.
Eva trank einen Schluck Mineralwasser. „Hat Daniel dich denn gestern angemessen empfangen?“
Marie nickte langsam. „Er schien sich zu freuen und hatte Spaghetti für uns gekocht.“
Eva hob verwundert eine ihrer perfekt geschwungenen Augenbrauen. „Er schien sich zu freuen?“
Marie nickte ernst. „Na ja, er war mit seinen Gedanken oft woanders. Bestimmt bei der Arbeit. Diese Kampagne hat es in sich, schließlich konnte er deswegen nicht mal seinen Urlaub antreten. Sicher gibt es Probleme, mit denen er mich nicht belasten will.“
Eva senkte den Blick auf ihren Teller und stocherte im Salat herum. „Gut möglich.“
Wie naiv sie doch ist. Was wird sie wohl sagen, wenn sie erfährt, dass Daniel, statt mit ihr nach Mallorca zu fliegen, mit mir nach Sylt gefahren ist?
Marie runzelte die Stirn. „Was hast du gesagt?“
Eva hob den Kopf. „Ich sagte: Gut möglich, dass er dich nicht mit seinen Problemen belasten will.“
„Hast du nicht noch etwas mehr gesagt? Irgendwas mit Mallorca und … Sylt?“
Eva schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Bestimmt nicht.“
Hab ich etwa laut gedacht? Hoppla, ich muss besser aufpassen!
Marie starrte ihre Freundin mit offenem Mund an.
Eva legte ihre Gabel hin und ergriff die Hand ihrer Freundin.
„Marie, Liebes, was ist denn auf einmal mit dir? Du bist ja ganz bleich.“
Besonders braun ist sie im Urlaub sowieso nicht geworden. Hat sich wahrscheinlich nur im Schatten aufgehalten. Na ja, empfindlich war sie schon immer.
Marie entzog Eva ihre Hand und stand auf. „Ich glaube, ich – muss mal zur Toilette.“
„Tu