„1786” verkündete stolz die Zahl, die man in den steinernen Türsturz gemeißelt hatte, das Baujahr. Es war die Zeit der französischen Revolution, die Zeit, als George Washington der erste Präsident der USA war und Goethe seine berühmte Italienreise machte. Die Jahreszahl war noch ergänzt worden um den Namen des ehemaligen Bauherrn: August Hehl.
Annähernd zwanzig Familien in der 735-Seelengemeinde Bernheim trugen diesen Namen. Irgendwie waren sie alle miteinander verwandt. Inzwischen waren sie natürlich weiträumiger und stärker gemischt als noch im 18. Jahrhundert. Selbst denen, die hier geboren und miteinander aufgewachsen waren, erschlossen sich die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Hehls, der Langs, der Lahrs, der Schöns und noch einiger weiterer – bewusst – nur mit Mühe.
Trat man allerdings einem von ihnen auf die Füße, bildlich gesprochen natürlich, im Gesangverein, im Gemeinderat, im Landfrauenverein oder auch nur beim Stammtischgespräch im Bernheimer Schafbock, wurde man innerhalb kürzester Zeit gewahr, wo die Blutsbande verknüpft waren. Mit offenbar genetisch gesteuertem Instinkt solidarisierten sich Namensgleiche und gleichnamig geborene Dorfbewohner in einhelligem Schulterschluss gegen den Frevler. Böse Blicke, ein nur noch knapper oder erst gar nicht gebotener Gruß, schroffe oder patzige Antworten auf freundlich gestellte Fragen waren die offen erkennbaren Signale kollektiver Abstrafung.
Marga Preuß hatte sich diesem dörflichen Kult durch ihre Abschottung ebenso entzogen wie ihre Familie, die mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte.
Ich schaute hinüber zur Scheune, die den Hof parallel zur Langgasse begrenzte.
„Dahinter habe ich meinen Gemüsegarten, aus dem ich mich verpflege. Ich ernähere mich vegan und da ist es schwer, die Produkte zu bekommen, die man will. Man gelangt direkt durch die Scheune in den Garten. Das ist sehr praktisch für mich.”
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie wieder neben mir stand. Sie nahm zwei gefüllte Weingläser von einem Tablett und stellte eine Schale mit Käsegebäck dazu. Sie prostete mir zu, nahm einen Schluck und sah mich erwartungsvoll an.
„Ich sehe Sie oft in ihrem Garten arbeiten, wenn ich zur Dunzelquelle oder zum Bernheimer Wald gehe. Aber Sie sind stets so eifrig mit ihren Pflanzen beschäftigt, dass sich noch nie ein Wort über den Zaun ergeben hat.”
„Ja, ich weiß. Ich gehe dem aus dem Weg. Dorfgetratsche ist meist grässlich und böse. Ist nicht gegen Sie gerichtet, ich meine das allgemein. Aber ich habe Sie auch schon oft gesehen, mit Ihren Hunden. Schöne Tiere. Wissen Sie”, nun lächelte sie sogar, „ich kann natürlich alle beobachten, die hinter meinem Garten vorbeigehen, mit einem Seitenblick, wenn ich mich nach unten bücke.”
Ich nippte von dem Wein. „Riesling?”
Sie nickte.
„Von Preuß & Erben?”
Ihr „Nein” klang hart, beinahe schroff. Blödmann, schalt ich mich, musst du dir die Fettnäpfchen auch noch selbst aufstellen?
„Nicht von Preuß und nicht von Dohne, Herr Schäfer. Den beziehe ich von Heinz Gebhard, direkt nebenan. Der ist gut, nicht wahr?” Sie trank hastig und wartete meine Antwort nicht ab. „Geld ja, sonst aber nehme ich nichts. Ich muss schließlich physisch leben, auch wenn man mich psychisch vegetieren lässt.” Und kaum vernehmlich sagte sie, wohl mehr zu sich selbst, als zu mir: „Ich weiß nicht einmal weshalb, was ich getan haben soll. Man weigert sich einfach, mit mir zu reden. Ich habe es aufgegeben. Außer meinem Neffen Andreas und einem Mitarbeiter vom Weingut ist Renate die einzige, die sich mit mir befasst. Sie hat mir zugehört. Aber auch ihr hat man nicht den Grund verraten, weshalb man mich verstoßen hat wie eine Aussätzige.”
„Ich weiß, Frau Preuß, dass es mich nichts angeht. Aber Sie vertrauen mir freimütig einiges von Ihrem Leben an und das lässt mich natürlich nicht kalt. Ich frage mich allerdings, weshalb Sie noch hier sind, in Bernheim? Weshalb ziehen Sie nicht einfach fort?”
„So, wie Renate, meinen Sie? Ich beneide sie um ihre Entschlusskraft, um ihren Mut, ihr Rückgrat. Ich habe hier mein Haus, das kann ich aber nicht verkaufen. Ich bin zwar die Besitzerin, aber Eigentümer ist der Alte.”
Ich sah sie verdutzt an.
„Ich kann ihn einfach nicht mehr als meinen Vater bezeichnen, verstehen Sie?” Sie zuckte mit den Schultern, setzte dann aber ihre Erklärung wieder fort, ohne eine weitere Reaktion von mir abzuwarten. „Ich habe nichts gelernt und keinen finanziellen Rückhalt, nichts. Ich bin auf die Zuwendungen dieser Menschen angewiesen. Was also sollte ich tun?”
Es folgten einige Sekunden des Schweigens. Sie starrte in ihr Weinglas und brachte die zartgrüne Flüssigkeit darin wie in einem Cognacschwenker zum Kreisen.
„Sprechen wir jetzt über Renate, Frau Preuß?”
„Wir sprechen schon die ganze Zeit über sie.” Wieder huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Weshalb meinen Sie wohl, habe ich Ihnen schon so viel über mich erzählt?”
Ich sah sie fragend an.
„Kommen Sie mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.”
Ohne auf meine Zustimmung zu warten, erhob sie sich und ging voraus zur Scheune, die wir durchquerten, um durch eine schmale Tür an der Rückseite in den Garten hinauszutreten. Auf einem mit Rindenmulch bedeckten Pfad lotste sie mich zwischen zwei Beeten hindurch, bis wir kurz vor dem Gartenzaun an einem anscheinend wild wachsenden Strauch anlangten. Liebevoll griff sie mit gespreizten Fingern unter eine Knospe.
„Sie wird sich bald öffnen wie die vielen anderen auch. Wunderschöne, leuchtendgelbe Blüten werden sich bald öffnen, die abends einen betörenden Duft ausströmen. Ich weiß nicht, was fürein Gewächs das ist und wo es herkommt. Auf einmal war es da. So, wie Renate.”
Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte und musste sie wohl recht belämmert angesehen haben.
Sie lachte ein eigenartiges Lachen. „Irgendwann einmal dachte ich, der Strauch würde zu groß. Wie nennt man das bei Menschen? Zu selbständig werden? Einem über den Kopf wachsen? Also, was tat ich?”
„Frau Preuß, ich verstehe nicht.”
„Gleich werden Sie es, warten Sie nur ab. Ich nahm also eine Heckenschere und schnitt alles weg, was mir nicht gefiel. Ich stutzte ihn zurecht. Und im nächsten Jahr? Keine Knospen, keine Blüten. Ich habe ihn angefleht, mich entschuldigt, aber es dauerte fünf Jahre, bis er mir den Eingriff verziehen hatte. Und plötzlich, vor zwei Jahren hatte er sich erholt. Verstehen sie jetzt?”
„Nicht so ganz. Ich vermute, Sie vergleichen den Strauch mit Renate?”, fragte ich unsicher.
Sie drehte sich um und ging den Weg zurück zur Scheune voraus. „Richtig. Renate wäre auf dem Weingut zurechtgestutzt worden. Und ob sie dann irgendwann noch einmal aufgeblüht wäre, das möchte ich bezweifeln. Ich glaube, wenn der Strauch den Garten verlassen könnte, er wäre damals auf und davon. So wie Renate.”
Als gälte es, die Worte von Marga Preuß zu untermalen, drang, als wir gerade wieder die Scheune betraten, gedämpft, wie durch Watte, eine Melodie an mein Ohr, die nach wenigen Tönen abbrach. „War das nicht der Anfang des Titelsongs aus Titanic: My heart will go on?”
„Was meinen Sie?”
„Die Musik eben.”
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts gehört. Vielleicht von nebenan; das kommt schon mal vor, je nachdem, wie der Wind steht und wie laut die Gebhardkinder ihre Musikanlage aufdrehen.”
Inzwischen waren wir wieder an dem Freiplatz angelangt und hatten uns gesetzt.
„Nun, Renate stand am Karsamstag, spät abends bei mir vor der Tür. Sie war völlig aufgelöst, so hatte ich sie noch nie erlebt.”
„Hatten Sie vorher häufiger Kontakt mit ihr?”
„Sie wohnt, besser wohnte, ja seit fünf Jahren auf