Das Lachen der Männer holte Aviva wieder in die Gegenwart zurück. Kraftlos lag sie zusammengekauert am Boden. Sie hörte noch, wie Rapo selbstbewusst ausrief: „Bindet sie vor meinem Haus an! Sie existiert für uns nicht mehr, solange ich es sage. Alle sollen sehen, wer hier der Herr ist. Wir feiern heute Nacht. Sie gehört jetzt mir.“ Der letzte Hoffnungsschimmer in Aviva war erloschen. Sie spürte nur noch eine tiefe Sehnsucht nach der ihr so vertrauten Stimme. „Wo bist du?“, hörte sie sich weinend fragen.
Zwei der Männer nahmen Aviva in ihre Mitte und schleppten sie zu Rapos Hütte. Aviva war so in sich eingesunken, dass sie das Geschehen um sich herum nicht mehr wahrnahm. Vor Rapos Tür, über der ein ausgestopfter Wildschweinkopf hing, wurde sie wieder auf die Knie gedrückt und mit den Handgelenken an einem Pfosten festgebunden.
Aviva wusste nicht, wie lange sie da gekniet hatte, als sie langsam wieder denken konnte. Ihr ganzer Körper schmerzte und sie erkannte, wo sie sich befand. Sie blickte zum Tor, das aus dem Dorf hinausführte. Ihre Knie schmerzten besonders, da sie auf ungeschliffenem Holz kniete. Sie versuchte, eine bessere Sitzposition einzunehmen. Es musste schon später Nachmittag sein, denn die Sonne verschwand langsam hinter dem Wald.
Aviva schämte sich, hier so gefesselt ausgestellt zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass man sie nicht beachten durfte. Die Dorfbewohner trauten sich nicht, zu Rapos Hütte zu schauen, geschweige denn etwas zu sagen. Aviva konnte nur noch warten, bis es dunkel wurde.
Plötzlicher Lärm riss Aviva aus ihren Gedanken. Eine Wache am Tor rief laut: „Sie kommen! Sie kommen!“ Alle Leute liefen zum Dorfplatz und es lag große Aufregung in der Luft. Dann sahen sie den Wagen, von zwei Ochsen gezogen, durch das Tor einfahren. Drei Männer eines anderen Stammes saßen auf dem Kutschbock. Sie trugen Umhänge aus Fell und ihre lauten, freudigen Rufe erfüllten die Atmosphäre. Alle schienen sich zu freuen.
Der Wagen stoppte am Dorfplatz und die Männer stiegen herab. Narog ging ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Da sie zu weit entfernt war, konnte Aviva nicht verstehen, was sie sagten. Aber sie ahnte den Grund des Besuches. Es ging wohl um die Bezahlung der Ländereien.
Die Männer gingen in Narogs Haus und einige Männer des Dorfes bereiteten ein großes Feuer für die Feier vor. Holz wurde angehäuft, Baumstümpfe in einem Kreis angeordnet und mit Leder bedeckt. Krüge, gefüllt mit Wein und Schnaps, wurden bereitgestellt. Wenig später sah Aviva, wie Kala mit Gora und Jada in Narogs Haus ging und verspürte auf einmal einen abgrundtiefen Schmerz. Sie ahnte, dass sie ihre Schwestern bald nie wiedersehen würde.
Nach einer geraumen Zeit kam Kala allein aus dem Haus. Sie konnte nicht anders, als zu Rapos Hütte zu schauen, und ihr Blick begegnete den fragenden Augen ihrer zerschundenen Enkelin. Aber ihr ledernes Gesicht blieb ausdruckslos, als sie sich abwandte und zu ihrem Haus eilte.
Nach einer Weile kamen Gora und Jada wieder heraus und gingen schnellen Schrittes zu Kalas Haus. Frauen und Männer hielten in ihrer Arbeit inne und Feldarbeiter eilten ebenfalls zum Dorfplatz. Ein Gemurmel ging durch die Menge. Sie alle freuten sich, dass eine Feier stattfinden würde, aber ganz ungetrübt war diese Freude nicht. Immer wieder schaute jemand zu Aviva, blickte aber schnellstens wieder weg und ging weiter.
Da sah sie die Tür zu Großmutters Hütte aufgehen. Kala kam heraus. In ihren Händen trug sie zwei dicke Leinenbündel. Hinter ihr erschienen Gora und Jada. Wie schön sie aussehen! Die Haare waren geflochten und sie trugen knöchellange Kleider aus hellem Leinenstoff, die sie sonst nur bei besonderen Anlässen tragen durften. Um ihre Taillen waren fein verarbeitete, braune Kordeln gebunden. Beide trugen eine Art Amulett um den Hals, das Aviva nie zuvor gesehen hatte.
Salin kam ebenfalls aus dem Haus und schritt neben ihnen her. Er sah traurig aus und Gora nahm ihn an der Hand. Als ob eine stillschweigende Übereinkunft getroffen worden wäre, schritten sie zum Ochsenwagen. Kala ging ihnen voran. Die beiden Schwestern wussten, dass es nichts nützte, sich zu widersetzen. Schließlich waren auch sie gewöhnt, mit Schlägen und Strafen zum Gehorsam gezwungen zu werden. Auf Aviva wirkten sie jedoch nicht bedrückt, sondern eher stolz. Sind sie vielleicht sogar froh, das Dorf zu verlassen?
Gora und Jada ließen ihren Blick über die versammelten Menschen und das Dorf schweifen, bis sie schließlich im selben Augenblick Aviva gefesselt auf dem Boden knien sahen. Für einen kurzen Moment trafen sich die Blicke der drei Schwestern. Es war ein Moment, der alles sagte, all das, was nie ausgesprochen worden war, aber worüber sie trotzdem Bescheid wussten. Es war, wie wenn sie zueinander sagen würden: Pass auf dich auf!
Ihre Blicke lösten sich voneinander, denn nun traten die Männer aus Derveta neben sie. Gora und Jada stiegen auf den Wagen, Kala reichte ihnen die Bündel. Als die fremden Männer ebenfalls aufstiegen, wurden Abschiedsrufe der Jäger laut und das Gespann fuhr durch das Tor hinaus. Aviva schaute dem Wagen nach. Das war also das Versprechen der Großmutter gewesen. Sie hatte ihre Schwestern verkauft.
Jetzt waren sie weg, das Tor wurde geschlossen und Salin stand davor, die Hand noch leicht erhoben wie zum Abschiedsgruß. Es schien Aviva, als ob ein Teil von ihm mit Gora und Jada mitgegangen war. Um ihn musste sich Aviva aber nicht sorgen. Vielleicht würde er ein starker Jäger oder ein Händler werden. Kurz schaute er zu Aviva, wandte den Blick aber schnell wieder ab. Aviva konnte ihn nicht deuten. Waren da Tränen in seinen Augen oder Wut? Er rannte fort und verschwand hinter den Hütten. Aviva wurde sehr traurig und verlor beinahe ihr Gleichgewicht.
Eine solche Situation hatte sie doch schon einmal erlebt … Ja, es war wie in ihrem Traum! Leise liefen die Tränen über ihr Gesicht. Jetzt bin ich ganz allein. Ohne es zu merken umklammerten ihre gefesselten Hände hinter ihrem Rücken den Rock. Sie hielt den Pfeil fest.
Verlassenheit, Angst, Verzweiflung und Ohnmacht überschwemmten sie. Alles, was sie hatte, war ihr genommen worden: Die Schwestern waren fort, der Bruder mied sie, sie hatte keine Eltern. Niemand in der Sippe stand für sie ein. Weshalb? Aviva spürte eine tiefe Ablehnung, die sie einfach nicht verstand. Sie wehrte sich nicht gegen die Tränen. Wie kommt es, dass mich sogar Großmutter Kala derart hasst? Habe ich so viel falsch gemacht?
Schon sehr früh hatte sie verstanden, dass es bei ihr und ihren Schwestern ums nackte Überleben ging. Sie hätte gerne geglaubt, sich liebevolle Versorgung und Wertschätzung verdienen zu können und manchmal erhoffte sie sich das immer noch. Die Wahrheit war aber eine andere. Für einen kurzen Moment meinte Aviva, ein Gefühl von Verachtung sich selbst gegenüber zu empfinden. Ihre Zweifel an sich selbst durften jetzt nicht überhandnehmen, denn eigentlich wusste sie doch um ihren wahren Wert. Aber manchmal wollte sie einfach dazugehören.
Sie versuchte, sich zu beruhigen und überlegte scharf. Kann ich es schaffen, irgendwie zu entkommen? Wenn ja, wohin soll ich gehen? Wo würden mich die Jäger nicht finden? Vielleicht in der Wüstenlandschaft, aus der noch nie jemand zurückgekommen ist? Während sie daran dachte, spürte sie ein tiefes, inneres „Ja“ in sich.
Die Dunkelheit brach herein und Aviva fröstelte allmählich. Ob Rapo bald auftaucht oder erst nach der Feier betrunken nach Hause schwankt? Sie beobachtete, wie das fröhliche Fest allmählich seinen Anfang nahm, während sie versuchte, den Pfeil zwischen die Fesseln zu schieben, um sie zu zerschneiden. Langsam spürte Aviva, wie ihre Lebenskraft zurückkehrte. Die schwarze Raubkatze! Plötzlich musste Aviva wieder an sie denken. Sie spürte, wie sie allein durch den Gedanken an sie Hoffnung bekam. Es muss doch einen Ausweg geben!
Inzwischen war es komplett dunkel geworden und der fast volle Mond zeigte sich am Himmel. Das große Feuer in der Mitte des Dorfplatzes loderte und warf gespenstische Schattenspiele an die Häuser. Sie ähneln den Schattenwesen aus den Wäldern, nur dass sie keine Augen haben, dachte Aviva und schauderte. Rapos Hütte wurde glücklicherweise nicht vom Feuer beleuchtet, nur der Mond beschien sie fahl. Aviva hörte Rufe und Gesänge, dazu Klänge, die durch kleine schmale Röhren erzeugt wurden. Jemand hämmerte auf der getrockneten und aufgespannten Blase eines erlegten Tieres, was ebenfalls