In einer parlamentarischen Demokratie wählen wir unsere Volksvertreter und schenken ihnen damit Mandat und Vertrauen, um in unserem Sinne zu agieren. Die Abgeordneten des Bundestages sind laut Artikel 38 des Grundgesetzes „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Der Bezug auf das „ganze Volk“ – also nicht auf einen bestimmten Wahlkreis, eine Partei oder Fraktion – begründet das freie Mandat.
Ein Bundestagsabgeordneter und selbst ein Bundesminister kann gar nicht auf allen Gebieten Experte sein, über die im Parlament entschieden wird. Deshalb ist es ein ganz normaler Vorgang, dass Politiker und ihre Mitarbeiter mit verschiedenen Interessengruppen sprechen, um sich einen Überblick zu verschaffen und unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen.
In diesem Buch finden sich viele relevante Informationen zum Thema Lobbyismus und Lobbyarbeit. Neutrale, positive und kritische. Wir zeigen Ihnen, was Lobbyarbeit beinhaltet und in Gänze umfasst, wie die Instrumente funktionieren und verweisen auch auf das, was nicht erlaubt ist. Das Autorenteam beleuchtet den gesamten Komplex aus sehr unterschiedlichen Blickrichtungen und nicht in allen Fragen stimmen alle Beteiligten miteinander überein. Wir haben bewusst nicht den einen Konsens gesucht, sondern – ganz demokratisch – beschlossen, unterschiedliche Einschätzungen gleichberechtigt nebeneinander darzustellen. Wir denken, dass unsere Leser davon profitieren. Dieses Buch klärt auf, ist Orientierungshilfe und beantwortet Detailfragen. Und das alles jenseits der zum Teil hitzig geführten Diskussionen um die Fragwürdigkeit des Lobbyismus.
Zusammengerechnet verfügt das Autorenteam über mehr als 130 Jahre Berufserfahrung, in denen sich sehr unterschiedliche Berührungspunkte zur Lobbyarbeit ergeben haben. Auch an diesem Erfahrungsschatz dürfen unsere Leser teilhaben. Schließlich gibt es auch noch den männlichen und den weiblichen Blick. Wir sind Autorinnen und Autoren und wissen, dass es auch Politikerinnen und Politiker, Lobbyisten und Lobbyistinnen, Verbandspräsidenten und Verbandspräsidentinnen gibt. Im Sinne der Lesefreundlichkeit nutzten wir grundsätzlich das generische Maskulin. Wir weisen an dieser Stelle nur einmal, dafür aber explizit darauf hin, dass wir darin die Frauen in Gedanken stets und selbstverständlich einschließen.
Hier noch ein kurzer Hinweis zur Handhabung dieses Buches. Wie alle Publikationen, die unter dem Label Kürschners Training erscheinen, lässt es sich von A – Z durchlesen. Bei gezieltem Interesse können spezielle Fragestellungen allerdings genauso gut einzeln betrachtet werden. Pro Kapitel finden Sie jeweils alles Wissenswerte zu einem Themenkomplex. Deshalb kommt es zuweilen zu kleinen Überschneidungen oder Verweisen auf andere Kapitel.
Auf Wunsch stehen Ihnen die Autoren zur individuellen Beratung oder für Fachseminare zum Thema Lobbyarbeit gerne zur Verfügung, weitere Informationen dazu finden Sie unter kuerschners.com.
Eine erhellende Lektüre wünscht Ihnen gemeinsam mit dem Autorenteam
1. KAPITEL
Was ist Lobbyarbeit?
Interessenvertretung. Das Bemühen, Entscheidungsträger von eigenen Argumenten zu überzeugen. Dazu gehören alle Maßnahmen, die dazu dienen, die öffentliche und politische Meinungsbildung zu beeinflussen und bestenfalls auf Gesetzgebungsverfahren einzuwirken.
Seit sich Menschen in festen gesellschaftlichen Strukturen mit Regeln und Gesetzen organisiert haben, gibt es Einzelne oder Gruppen, die die Spielregeln bestimmen und andere, die sich daran halten müssen. Dass Letztere versuchen, auf die Gestaltung der Spielregeln im eigenen Interesse Einfluss zu nehmen, ist verständlich und nachvollziehbar.
Sicher hatten auch schon in grauer Vorzeit Horden- oder Clanführer Besuch von Sippenmitgliedern, die um Verständnis und Unterstützung baten. Menschen waren und sind in ihrem Zusammenleben stets auf Bündnisse und Gruppenzugehörigkeit angewiesen. Wir sind schon rein biologisch gesehen keine Einzelkämpfer. Im Gegenteil: Die moderne Psychologie weiß heute, dass Menschen in der Isolation verkümmern und vorzeitig sterben.
Über den Ursprung der Begriffe Lobbyismus oder Lobbyarbeit kursieren unterschiedliche Geschichten, die im Kern immer das Gleiche erzählen. So gab es in der Römischen Republik vor der Curia, wo der Senat tagte, eine Lobia, eine Wandelhalle, in der die Bürger Roms auf ihre Senatoren treffen konnten, um ihnen ihre Sorgen, Wünsche oder Vorschläge zu unterbreiten. Auch die französischen Könige wurden von Bittstellern aufgesucht. Solche Besuche nannte man Antichambrieren, denn die Aufwartung fand im Vorzimmer der königlichen Privatgemächer statt. Zutritt erhielt nicht das einfache Volk, nicht einmal Kaufleute oder Händler wurden vorgelassen. Wer etwas beim König erreichen wollte, musste zunächst einen ranghohen Adligen für sein Begehr gewinnen, denn nur dieser hatte überhaupt eine Chance, an den Hof und in das Vorzimmer der Macht zu gelangen. Da sich diese Adligen ihre Bemühungen mit Gefälligkeiten oder sachlichen Gegenleistungen vergüten ließen, werden sie zuweilen als frühe Lobbyisten tituliert.
Die heutige Schreibweise Lobby geht auf das britische Unterhaus und den US-Amerikanischen Kongress zurück. Auch hier bezieht sich der Begriff auf die Räumlichkeiten vor dem Sitzungssaal, in dem Abgeordnete und Kongressmitglieder hinter verschlossenen Türen tagen. Zu diesen Vorhallen erhält man nur auf Einladung, nach gründlicher Prüfung oder durch hartnäckiges Bitten Zutritt. Und auch hier finden Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern statt. In diesem Sinne wird der Begriff aktuell in Deutschland verwendet.
Die Vorstellung, dass Bürger oder Interessenvertreter wichtige Angelegenheiten direkt mit den Parlamentariern in den Fluren des Reichstagsgebäudes besprechen, entspricht natürlich nur zum Teil der Realität. Gleichwohl kommt es vor, dass beispielsweise ein Verbandsgeschäftsführer einen Termin in einem Abgeordnetenbüro hat und auf dem Weg dorthin im Fahrstuhl einem weiteren Parlamentarier begegnet und rasch die Gelegenheit nutzt, um eine Visitenkarte weiterzureichen oder ein Treffen zu verabreden. Die Mehrheit der Gespräche findet dann tatsächlich in den Büros hinter verschlossenen Türen statt. Oder während eines gemeinsamen Mittagessens, bei einem Kamingespräch oder auf einer der vielen Veranstaltungen im Parlaments- und Regierungsviertel. Weitere Informationen dazu finden sich im 12. Kapitel über Kontaktpflege.
Das Lobbygeschäft ist keine Einbahnstraße. Neben denjenigen, die ihre Interessen vortragen oder vortragen lassen, besteht für Politiker selbst eine Notwendigkeit des Informationsaustausches mit allen möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen, Unternehmen, Verbänden und Experten. Von keinem Abgeordneten kann erwartet werden, dass er per se alles über ein Thema weiß. Auch sein Büro und seine Referenten sind auf den Austausch außerhalb des Politikbetriebes angewiesen. Wie sonst sollten Abgeordnete über einen Gesetzesvorschlag aus einem Fachministerium entscheiden, wenn sie nicht zuvor alle beteiligten Seiten angehört und verstanden haben? Parlamentarier und auch Bundesminister können oder sollen – so steht es in den jeweiligen Geschäftsordnungen – Themen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und zuständige Interessengruppen anhören. Die Expertise unterschiedlicher Disziplinen von Fachleuten aus der Praxis ist hierfür unverzichtbar. Dabei wird vorausgesetzt, dass Abgeordnete und Ministeriumsmitarbeiter ihre Funktionen nicht zum eigenen Vorteil ausnutzen. Das Stichwort Verwaltungsethik befasst sich mit diesem Thema. Politiker sollen stets die Allgemeinheit, das ganze Volk, im Blick haben. Dabei gilt: Die Summe der Einzelinteressen bildet noch nicht das Gemeinwohl ab.
Zum großen Bereich der Lobbyarbeit gehören ganz unterschiedliche Personengruppen, die auch in sehr unterschiedlichen Funktionen tätig sind. Da gibt es zum einen den klassischen Lobbyisten, der über vielfältige Kontakte zur Politik verfügt und im Auftrag Dritter Themen lanciert. Diesen Beruf kann man mittlerweile sogar von der Pike auf erlernen. Ein Studium der Politischen Kommunikation wäre zum Beispiel eine Möglichkeit. Es gibt Lobbyisten, die als selbstständige Solisten arbeiten, und Lobbyisten, die für eine Agentur tätig sind. Erkennbar sind diese an Namen wie Agentur für Strategische Kommunikation oder Büro für Public Affairs. Auch Consultingunternehmen aller