Aber was ist es dann?
Vorsichtig führe ich einen Finger an meine Zunge und koste die Substanz – süß, so muss süßliche Nahrung schmecken; viel besser als das Zeug, das lauwarm aus den Hähnen klatscht. Glukose, ein synthetischer Fruchtzucker? Das gab es früher manchmal, flüsterte mir ein Archivar; heute gibt es nur noch Brei. 40 µl pro Artefakt und Flug, so schafft jedes Insekt einen Tropfen nach dem anderen herbei; sie bleiben am Gehäuse haften, an den Fühlern, an den filigranen Beinen – ich habe die Menge hochgerechnet: Bei einer Anzahl von fünfhundert Bienen dauert es knapp einen halben Zyklus, bis ein ganzer Liter in den Wachswaben eingelagert ist.
Ihr Programm läuft wie ein Uhrwerk, konstant. Für welchen Zweck, ist mir immer noch rätselhaft.
Ich werde den Container verlassen, noch heute. Zu dem Entschluss bin ich gekommen, als ich letzte Nacht in meiner Schlafwanne lag und furchtbare Geräusche hörte – das Keuchen einer Frau; und dann ein Winseln, das durch die Belüftung zu mir hereinsickerte, leise und gequält. Wie von einem Säugling.
Was dort draußen vor sich geht ... Ich muss es wissen! Und dennoch kostet es mich endlos große Kraft, den Rollstuhl zur Iristür zu treiben, um meinen Finger auf den grünen Schalter zu legen: Da ist ein Widerstand in meinem Kopf, der versucht, mich zu blockieren. Ich schwitze, mein Speichertumor glüht vor Fieber; fühle mich krank und schwach, und jeder Radschwung wird zur Qual, bevor ich die Distanz überwunden und mich in Position gebracht habe. Schnaufend strecke ich den Arm vor und –
Danach gibt es kein Zurück mehr! Die Paragrafen brennen vor meinen Augen: §935.a und §935.b. Ob es das tatsächlich wert ist? Habe ich nicht alles, was ich zum Leben brauche: eine feste, saubere Arbeit, einen Wohnraum, Nahrung und Wasser; und das einfach so aufs Spiel setzen? Wie leichtsinnig wäre das! Was schert es mich überhaupt, was in der Außenwelt passiert – nichts und wieder nichts! Das Hauptwerk hat dafür Sorge zu tragen, dass das System funktioniert, kein anderer! Außerdem: Noch gäbe es die Chance, meinen Ausfall zu beenden, indem ich den Bienenschwarm entsorge. Ja, das sollte ich tun. Genau das sollte ich tun! Schon will ich den Rollstuhl wieder umdrehen, als mir durch den Kopf schießt:
Und wenn das ganze System krank ist? Vielleicht liegt ihm eine Basisidee, eine Programmierung zugrunde, die über die vielen Zyklen fehlerhaft geworden ist. Wäre das nicht möglich? Würde das nicht erklären, warum ich die Tür nicht öffnen darf; warum ich Tag und Nacht für mein Zeitkonto schufte, damit ich im Gegenzug diesen klebrigen Brei und etwas frische Luft erhalte? Wo liegt der Sinn des Ganzen? Wo? Ich bin doch nur ein Sklave, mehr nicht.
Ein Rechenknecht! Aber natürlich, wieso ist mir das nicht früher aufgefallen: Wir alle, wir sind Sklaven in einem riesigen Arbeitslager, erschaffen Zahlen, um neue Zahlen zu schaffen – so, als würde man Steine herbeischleppen, damit andere sie zerschlagen können. Das ist es; ich habe es endlich durchschaut ...
Ich werde mein Gefängnis öffnen!
Golden, heiß – ein Lichtstrahl schießt mir ins Gesicht! Reflex-artig schütze ich mein Lupenauge mit der Hand, während die Türblende spiralförmig aufgeht. Sonne hüllt mich ein, überströmt mich! Fast wäre ich an der trockenen Luft erstickt, die meinen Container durchflutet; sie kratzt im Hals wie Reizgas, schnürt ihn zu, dann ein Stechen in der Lunge, das mich asthmatisch keuchen lässt. Ich huste; versuche, nicht zu atmen, bevor ich den Rollstuhl ein Stück weit nach draußen bugsiert habe. Es knirscht unter den Rädern, als würde ich über Glasscherben fahren. Noch immer kann ich nur flimmernde Umrisse erkennen – und erst, als ich mir die Tränen aus den Augen blinzle, wird die Sicht klarer: ein Fels ... eine felsige Klippe, die steil zum Meer abfällt.
Das Salzsäuremeer!
Sein Anblick überwältigt mich; wie gebannt starre ich auf die Wellen, in denen sich der Himmel spiegelt. Leichte Brisen kräuseln den gelblichen Schaum. Obwohl ich weiß, dass keine Fische oder anderen Tiere mehr darin leben, es seit abertausend Zyklen tot ist; etwas geht von diesem Meer aus, eine Ruhe, eine erhabene Schönheit, die mich ergriffen macht; so habe ich mich nur einmal im Leben gefühlt: als ich auf dem Geländer saß und die Stadt glitzernd im Sonnenlicht sah.
Viele Intervalle kann ich mich nicht losreißen, es ist ... es ist ... eine perfekte Gleichung, ein Fraktal ohne optische Fehler, völlig makellos. Eine Böe kühlt mir die fiebrige Stirn; ich schaue nach rechts: Dort steht ein zweiter Container auf dem Plateau – offen; schwarze Wände, genauso wie meiner, und eine Kennziffer auf dem Wellblech:
3.31.255.83, 2.88! Ah Muken Cab, er muss es sein, kein anderer; seine Bienen haben mich zu ihm gebracht. Aber warum? Und wie? Kann er die Frachtlibellen steuern, über ihren Kurs, ihre Ladung bestimmen? War das kein genehmigter Transport von Nordsektor B, hierhin, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47? Verwirrt blicke ich über die Schulter zurück: Hinter meinem Wohncontainer fällt der sandige Felsen ebenso stark ab, runter in ein Tal, das mit einer Maschinenstadt bedeckt ist – die Kuppeln des Hauptwerks, wie überall, Fabriken, Rechenanlagen, Schornsteine, doch kein Qualm, kein Ruß, kein Dreck. Ist sie etwa stillgelegt? Wieso ist dann die Versorgung intakt? Die Fragen reißen nicht ab!
Hastig wende ich den Rollstuhl, lasse ihn über den Schotter schleifen, bis seine Räder nach ein paar Metern in einer Kiesgrube hängen bleiben. So sehr ich mich anstrenge, sie stecken fest. Ich muss also aufstehen, eine mühsame Prozedur; meine Muskeln sind schwach, mein Gleichgewicht ist schlecht, dennoch reiße ich mich zusammen, sammle Kraft, um mich an den Griffen hochzustemmen. Mit zitternden Armen kann ich mich aus dem Sitz befreien, wanke zwei Schritte auf die fremde Iristür zu, von der ein übler Geruch zu mir herweht.
Gleich bin ich da! Noch ein Schritt, nur noch ein Schritt weiter; kann das Gewicht des Tumors kaum halten – alles tut mir weh, die Beine, die Wirbelsäule; ich beiße die Zähne zusammen. Los, weiter, noch ein Schritt. Jetzt noch ein Schritt ... Schwitzend und entkräftet erreiche ich den Container, will gerade einsteigen, als mir ein eitriger Gestank entgegenschlägt. Ich unterdrücke den Würgereflex, während ich mich entsetzt umsehe.
Auf einem Stahlgestell liegt eine Frau, den fettigen, von Wulsten deformierten Bauch nur spärlich in ein Tuch gehüllt – eine Gebärerin, die schwanger scheint, obwohl sie im Arm schon einen nackten Säugling hält. Ihre Brüste sind geschwollen, hängen wie Zysten an ihrem Leib. Überall Blut! Mir wird schwindelig; instinktiv will ich zurück, raus auf den Felsen, doch ich kann mich nicht bewegen. Mit offenen Mund stehe ich da, vollkommen reglos, und starre sie an.
Dann spricht sie zu mir: »Komm näher, mein Sohn.«
Es kostet mich Überwindung, zu dieser alten kranken Frau zu gehen, ihre entzündete Haut zu sehen, ihren Körpergeruch zu ertragen. Nur widerwillig hinke ich an einem Becken vorbei, aus dessen Hähnen jene süßliche Masse quillt, die meine Insekten so eifrig herbeischaffen. Eine besonders energiereiche Nahrung? Drei Bienen krabbeln am Beckenrand, zwei golden, eine silbern – seltsam. Gibt es etwa einen zweiten Schwarm? Alles ist so diffus! Mein Speichertumor brennt.
»Wer bist du?«, frage ich, nachdem ich mich neben sie gestellt habe. Ekelhaft, für welchen Zweck das Hauptwerk sie gemacht hat! Als Reproduktionsmaschine!
Vorsichtig nimmt sie meine Hand, als wäre sie aus Glas; ich lasse es zu. »Ich bin deine Mutter, nur so viel ist wichtig. Aber die Frage ist doch, wer du bist.«
»Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name: Chémo«, spule ich mechanisch ab.
Sie lächelt. »Ahnst du es nicht, nein, wirklich nicht?«
»Was?« Ein Gedanke, aber –
»Du warst der Ah Muken Cab; und du wirst es wieder sein, sobald dein Parasit das Hauptwerk dazu gebracht hat, uns einen Operationsraum zu senden.«
Ein Druck im Kopf. Meine Zunge klebt am Gaumen. Während ich nach Worten suche, beobachte ich den Säugling, wie er die kleine Faust im Schlaf bewegt.