Vom Salz in der Suppe. Manfred Steinert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manfred Steinert
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783957449580
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Schur, Egon Adler, Erich Hagen u. a. waren die Götter, die Idole, denen der Junge manchmal, weil auf gleicher Trainingsstrecke im Norden Leipzigs, sogar leibhaftig begegnen konnte. Schule, berufliche Entwicklung? – Fehlmeldung! Andere Interessen? Früher recht zahlreich vorhanden gewesen, jetzt aber: Fehlmeldung! Nichts anderes hatte da noch Platz, nicht mal Mädchen konnten den jungen Mann daran hindern, täglich zu trainieren. Wenn er mal einen »Ruhetag« einlegte oder er das zwangsweise tun musste, stellte sich bei ihm sogleich ein schlechtes Gewissen ein und anderntags wurde die Distanz – wozu man ebenso sagen könnte, die Dosis der Droge – dafür entsprechend erhöht. Einst ein berühmter Radrennfahrer zu werden – das war’s! Das und nichts anderes wollte der junge Mann, dem ordnete er zeitweilig alles unter. Dafür war er zu fast allem bereit und meldete sich primär aus diesem Grunde sogar freiwillig zur Armee. Entscheidend dafür war die Hoffnung, damit nach der Lehre einem gesundheitlich und zeitlich seinem Ziel abträglichen Dreischichtbetrieb in einer Lackfabrik zu entfliehen. Und außerdem vielleicht gar beim Armee-Sportklub (ASK) noch intensiver als zuvor trainieren zu können.

      Doch kam schließlich alles ganz anders: Denn während der Armeezeit und ohne Vorwarnung, wie der Blitz aus heiterem Himmel, geschah es: Ein ganzes Jahr lang Krankenhaus. Danach vorzeitige Entlassung aus der Armee mit dem niederschmetternden Vermerk in den Akten: »Erwerbsvermindert!«.

      Wie es plötzlich dazu kam?

      Militärmanöver war angesagt. Für den jungen Mann – präziser, also für mich – gleichzeitig als Abschluss der Grundausbildung. Danach, so die Hoffnung, würde ich mit meinem Trainingsprogramm noch intensiver als bisher beginnen können. Zunächst im Rahmen des ASV, wenn ich gut genug wäre, vielleicht sogar beim Klub. Das wäre das große Los. Bereits während der Grundausbildung hatte ich zum Training mehrfach pro Woche außerplanmäßigen »Ausgang« bekommen, was schon sehr ungewöhnlich war und manch neidischen Kommentar bei denen auslöste, die bis zum Ende der Grundausbildung nach Dienstschluss in der Kaserne hocken mussten.

      Der »Krieg« der Abschlussübung sollte im Lausitzer Raum stattfinden und viele Divisionen daran teilnehmen. Es war wahrscheinlich das mieseste Februarwetter, das man sich dafür denken kann. Die Temperatur pendelte um den Gefrierpunkt, dazu tagelanger Regen mit Schnee vermischt und ständig ein ekelhafter Wind. Die großen 152 mm-Haubitzen waren eingerichtet, die Mannschaften hatten sich neben den Geschützen eingegraben. Alles war schlammig, die Sachen zunehmend feucht, Tag und Nacht klapperte ich zusammen mit meiner Gruppe mit den Zähnen, irgendwann halfen auch Zeltplanen nicht mehr, die Kälte drang bis in die Knochen.

      So wartete unsere Kompanie etwa drei Tage auf den »Angriff« des Gegners. Die ersten beiden Tage war noch Geschützdonner von Nachbarbatterien zu hören, am dritten Tag auch das nicht mehr. Was war hier los? Sogar der Essennachschub blieb aus, sodass sich zur Kälte und den nassen Sachen nun auch noch grässliche Hungergefühle in die Därme schlichen. Am vierten Tag klärte sich alles auf. Ein Jeep kam angefahren und aus der Ferne auf einer kleinen Anhöhe konnten die im Graben liegenden Soldaten mitbekommen, wie die Vorgesetzten sich gegenseitig anschnauzten und mit Vorwürfen überschütteten. Des Rätsels Lösung war sowohl trivial als auch fast unglaublich: Man hatte sie in der Kommandostelle schlicht und einfach vergessen. So einfach kann das Leben manchmal sein.

      Die Folgen waren es leider nicht. Denn viele der »Vergessenen« verbrachten die nächsten Tage mit Fieber, Lungenentzündung und ähnlichen Errungenschaften im Sani-Punkt, schwerere Fälle im Armeekrankenhaus.

      Ich gehörte leider zu den Letzteren, mein Armeelazarett-Aufenthalt betrug insgesamt ein ganzes Jahr und endete mit dem bereits erwähnten Prädikat »Erwerbsvermindert«. Ich hatte mir beim Manöver eine doppelseitige Lungen- und nasse Rippenfellentzündung zugezogen. Nach scheinbarer Genesung dann einen noch viel gefährlicheren Rückfall. Wochenlang war in den Mienen der Ärzte bei der Visite an meinem Bett ein Fragezeichen nicht zu übersehen. Dass der Fakt, dass ich als einfacher Soldat in einem Einzelzimmer lag, eher das Gegenteil eines Privilegs darstellte, das erschloss sich mir erst später. Denn als ich später in einem normalen Mannschaftszimmer lag, bemerkte ich, dass aus jenem, „meinem“ Zimmer immer mal jemand, zur Gänze mit einem Laken abgedeckt, rausgefahren wurde. Schließlich, als es mir schon wieder »gut« ging, hatte sich aus allem noch eine Tuberkulose entwickelt. Auch wenn ich später wieder recht stabil genas, meine Rennfahrerpläne, so viel war mir klar, die konnte ich mir abschminken.

      Allein schon dieser gewaltige Umbruch, mein »Rausschmiss« aus einem selbst gebastelten Universum, dieser abrupte Übergang vom jugendlichen, draufgängerischen »Kraftpaket«, über ein längeres Verweilen auf der Schippe des Sensenmannes, bis hin zur unsanften Landung mit einem »Minderwertigkeitszertifikat« in der Tasche, das allein wäre schon eine separate Abhandlung wert.

      Andererseits, mit plötzlichen schweren Krankheiten oder Unfällen müssen auch viele andere lernen, umzugehen. Und nun war so etwas eben auch mir passiert! Ich war so gründlich aus der Bahn geworfen, dass alles das Potenzial einer persönlichen, das ganze weitere Leben bestimmenden Katastrophe in sich barg.

      Als »Sternstunde« wäre dieser jähe Eingriff des Schicksals deshalb gewiss nicht zu bezeichnen.

      Jedoch eine wirkliche Sternstunde sogar physikalisch gesehen etwa eine Stunde – sollte trotzdem noch auf mich warten.

      Denn, wie nun weiter nach dem plötzlich auf dem Lebensweg aufgetauchten Stoppschild?

      Berühmter Radrennfahrer? – Abschminken! Studieren? – Bei den Voraussetzungen, nur mit einem miesen 8-Klassen- und nicht viel besseren Lehrabschluss? Also Abschminken! Berufliche Entwicklung vorantreiben? – Womit, wohin? Also ebenfalls Abschminken! Zukunft? – Ein von sarkastischem Selbstmitleid durchtränktes Grau. Öde, trost- und hoffnungslos!

      Aber da waren doch in meiner »Vor-Radrennzeit«, noch als Grundschüler, so viele gute Ansätze gewesen. Interessen, vielfältig, später jedoch alles überwuchert durch den Radrenn-Wahn. Sollte davon nicht doch noch etwas zu retten, zu reaktivieren sein?

      Aber wie? Wie sollte man jetzt all das Versäumte nachholen können?

      Noch im Krankenhaus und Sanatorium, mit unendlich vieler Zeit zum Nachdenken und zahlreichen durchgrübelten Nächten, machte es irgendwann einmal richtig »Klick«. Zunächst nur insgeheim, tief im Inneren. Später dann ermunterte mich der ältere Bruder aus der Ferne, deutete Möglichkeiten an, machte Hoffnung. Und da war ja auch noch die DDR mit ihren, heute teilweise nicht mehr nachvollziehbaren Regeln. Ihren zwar vielen Begrenzungen und Einengungen, jedoch auch ihren Möglichkeiten.

      Denn, hatte ich mich seinerzeit nicht freiwillig zur Armee gemeldet? Weniger aus staatspolitischer Überzeugung, sondern aus ganz pragmatischen Überlegungen im Zusammenhang mit meinen Radsport-Ambitionen. Und hatte ich damit nicht auch meinem Betrieb einen großen Gefallen getan, dem immensen Druck von »oben« zur Werbung von »Armee-Freiwilligen« nachzukommen. Und förderten die Betriebe deshalb derartige »Freiwillige« dann gewöhnlich nicht über die Gebühr – zum Beispiel mit Delegierungen zum Studium?

      Bis dahin waren alle Überlegungen noch logisch. Aber wie sollte das mit nur einem 8-Klassenabschluss gehen? Mit einem sehr mäßigen noch dazu. Zwar sollte es diese oder jene Ausnahme schon gegeben haben. Aber gerade ich, beziehungsweise mein Vater, ohne jegliche Beziehungen oder »heiße Drähte«? Vater, der ja gar kein Parteibuch, erst recht nicht das »richtige« hatte, der in seinem Tagebau sicher ein außergewöhnlich tüchtiger Arbeiter war, aber eben sonst nichts weiter. Somit musste für mich, bei allem Wohlwollen des damaligen Staates für Studienwünsche von Arbeiterkindern, alles wohl Illusion bleiben.

      Andererseits, zumindest das Fragen kostete ja nichts. Und ein richtiger Antrag auf Delegierung, der müsste ja auch erst einmal offiziell abgelehnt werden. In diesem Falle immerhin nicht nur von einem »Arbeiterkind«, sondern zudem noch von einem »Armeefreiwilligen«, der sich noch dazu bei der Armee einen schweren Gesundheitsschaden zugezogen hatte. Vielleicht gab es also für mich doch noch irgendeinen guten Stern? Und … es schien tatsächlich so. Denn bereits nach kurzer Zeit landete die Delegierung zur Ingenieurschule in Berlin schwarz auf weiß bei mir im Postkasten. Kaum zu fassen! Einzige Bedingung dabei: Natürlich müsse ich vorher noch die Aufnahmeprüfung in Berlin