Zwei Tage vor unserem Kurztrip am Samstag nach NRW – Sina wollte eine Freundin zu deren 70-igsten Geburtstag in Gelsenkirchen besuchen und ich Schwager und Schwägerin (Schwester meiner vor fünfeinhalb Jahren verstorbenen Frau Jutta) in Gladbeck – saßen wir in Nürnberg in einem urigen Café, im ersten Stockwerk eines Blumenladens. Es war mehr ein Provisorium, das aus mit klobigen Ledersesseln ausgestatteten Räumen bestand.
Wir fanden an einem kleinen Tisch in der Nähe des Treppenaufganges Platz, wo wir uns dennoch ungestört unterhalten konnten. Der Kaffee war heiß, und die selbst gebackenen Torten ausgesprochen lecker. Beiläufig kam Sina auf meine Heimfahrt zu sprechen und hielt Donnerstag für die richtige Wahl. Das wäre zwei Tage nach unserer Rückkehr aus NRW gewesen.
In meinem Gesicht las Sina Entsetzen und wollte sofort reagieren. Enttäuscht, leicht verunsichert und auch bockig kam ich ihr aber zuvor:
»Nein, am Donnerstag fahre ich nicht, dann am Mittwoch.«
Sina war erschrocken und versuchte zu beruhigen: »Ich will Dich doch nicht loswerden; nein, dann fahr bitte erst am Samstag.«
Wir gaben uns einen Kuss und hatten gleich neuen Gesprächsstoff.
Etwas später stiegen wir die alte Holztreppe hinunter. Ich bezahlte und Sina kaufte im vorweihnachtlich gestalteten Verkaufs- und Ausstellungsraum eine große rote, dicke Kerze und wusste auch, wo ich sie zu Hause bei mir hinstellen sollte. Advent stand vor der Tür.
Am Samstag, Abfahrt 9.00 Uhr, lenkte Sina unseren Wagen in Richtung NRW. Bei der Freundin hatte sie sich für ca. 16 Uhr angemeldet. Im Kofferraum lag ein Gesteck, das wir in der Goldschläger-Stadt Schwabach für die Grabstätte ihrer Eltern in Düsseldorf gekauft hatten.
Nach dem Friedhofsbesuch steckten wir in der Stadt sofort im Stau; wir kamen kaum einen Schritt voran. Das warf den Zeitplan über den Haufen; erst gegen 17.45 Uhr erreichte Sina ihr Ziel.
Am Abend erhielt ich noch eine sms mit Gute-Nacht-Wünschen und, wie ich erst am nächsten Morgen über Mailbox erfuhr, hatte Sina mir noch in der Nacht mitgeteilt, dass ihre Verspätung nicht gut aufgenommen worden war. Sie hatte sich offensichtlich einiges anhören müssen; ihre Stimme drückte Niedergeschlagenheit aus.
Es war die richtige Entscheidung, Schwägerin und Schwager zu besuchen. So konnten wir die fernmündlichen Bilder durch persönliche Eindrücke aktualisieren.
Wir erlebten gegenseitig die ungeschminkte Gegenwart mit ihren Einschränkungen und dem Alter gezollten Arrangements. Unser derzeitiges Befinden und die jüngste Vergangenheit nahmen den größten Raum unserer Unterhaltungen ein. Wir brachten uns auf den neuesten Stand, erinnerten uns aber auch an gemeinsame Erlebnisse, in denen Jutta immer dabei war.
Es sind schöne, liebevolle Erinnerungen, die mir den Rückblick heute mit nicht mehr zu großer Wehmut erlauben. Ich kann jetzt mit Freude und Dankbarkeit auf diesen mit nichts vergleichbar schönen, erfüllten Abschnitt meines Lebens zurückschauen.
Der Besuch eröffnete mir aber zugleich einen noch realistischeren Blick auf die Gegenwart. Und auch meine vergleichbar größeren Erwartungen an die Zukunft, an einen ersehnten, erfüllenden neuen Lebensabschnitt waren unübersehbar. Sie bestärkten mich umso mehr, das Wagnis entschlossen anzugehen. Dafür hatte das Schicksal mich zu Sina geführt.
Für Renate und Klaus war der Blick in die Zukunft überschaubar. Ich dagegen darf jetzt wieder auf einen neuen, vielleicht sogar noch einmal aufregenden Lebensabschnitt hoffen. Deshalb war meine optimistische Perspektive für die beiden von Interesse.
Sie wussten, dass es Sina gibt und erfuhren jetzt, dass ich mir ein Leben mit ihr nicht nur vorstellen könnte, sondern sehnlichst wünschte. Dieser Wunsch beherrscht mein Denken und Fühlen, lähmt alle anderen Aktivitäten. Andere Dinge nehme ich erst wahr und kann mich ihnen intensiver widmen, wenn wir nicht für länger getrennt sind.
Am Dienstag stand ich wie abgesprochen um 10.30 h bei einer anderen Freundin vor der Tür; hier hatte Sina übernachtet. Bei einem Kaffee machten wir uns bekannt, bevor wir nach Düsseldorf aufbrachen.
Sina war bei mir – die Welt wieder in Ordnung. Und dennoch waren wir vor Störungen auch diesmal nicht gefeit. Als ich die Handy-Info ansprach, versuchte Sina sie mit einer wenig überzeugenden Bemerkung herunterzuspielen. Die Nachricht war ihr im Nachhinein offensichtlich peinlich; sie versuchte sie auszublenden.
Ich erfuhr also nichts Näheres. Und als ich in einer anderen für uns beide belanglosen Sache einmal nachfragte, reagierte Sina gereizt:
»Das habe ich doch gesagt.«
Einen nachhaltigeren Eindruck hinterließ dagegen ihre Bemerkung:
»Du bist so verändert; sind eure gemeinsamen Erinnerungen an früher der Grund dafür?« Ich war irritiert, stellte richtig, dass das keineswegs der Fall wäre und fügte bekräftigend hinzu, dass ich im Gegenteil nicht verschwiegen hätte, dass ich mir nichts mehr wünschte, als ein Leben mir ihr. Das blieb ohne Erwiderung.
In Düsseldorf, wo Sina auch einige Jahre gelebt hatte, legten wir einen Stopp ein. Wir bummelten über die Kö, schauten in einige Geschäfte und aßen in einem Sina gut bekannten Restaurant zu Mittag. Danach spazierten wir in dem geschäftigen Treiben bis an den Rhein.
In der kurzen Zeit sammelte ich viele neue Eindrücke. Sinas Verhalten und ihre Äußerung bezüglich meines Besuchs in Gladbeck ließen mich aber nicht los.
Hatte dieses Wochenende, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht Verunsicherung ausgelöst? Befürchtet Sina wohlmöglich, dass ich mir meiner Liebe zu ihr nicht absolut sicher bin? Sie konnte schon aufgrund meines gelebten Verständnisses von partnerschaftlicher Liebe jeden Zweifel ausschließen.
Zogen also doch wieder dunkle Wolken auf? Wollten wir trotz aller liebevollen Beteuerungen und des unzweifelhaft gleichen Herzenswunsches unseren zielsicheren Weg wieder einmal verlassen? Er lag doch nicht im Dunklen, sondern im strahlenden Sonnenlicht. Waren wir geblendet oder ein weiteres Mal blind? Reagierten wir wieder überempfindlich, ließen wir völlig unbegründete Zweifel zu?
Das durfte uns nicht noch einmal passieren. Unser Traum sollte uns bestärken und beflügeln: zusammen bleiben und in absehbarer Zeit auch zusammen leben. Diesen Wunsch wollten wir behutsam, nichts überstürzend, verwirklichen.
Unserem Zielbild fehlten aber noch die scharfen Konturen. Schuld daran waren sicher die vielen Trennungen. Wir lebten immer noch zu sehr nur den beglückenden Augenblick. Vor allem Sina hielt sich immer sehr bedeckt. Mein Leben kennt sie bis ins Detail. Kenne ich ihres noch zu wenig, um ihre Zurückhaltung zu verstehen? Was muss ich noch wissen?
Sina darf es nicht zulassen, dass ich mir Unverständliches und noch nicht Bekanntes durch Vermutungen ersetze. Das führt zielsicher zu weiteren Irritationen, möglicherweise zu unzulässigen, zerstörerischen Schlüssen.
Das bewährte Unheil blieb ein weiteres Mal nicht aus. Wir beschworen es in den verbleibenden Tagen und in einem späteren Telefonat geradezu herauf.
Zunächst fragte Sina mich, wann ich am Donnerstag fahren wollte. Ich war sprachlos. Dieses Thema hatten wir doch vor Nordrhein-Westfalen (NRW) abschließend geklärt. Und die erneute Einigung auf Samstag beschwichtigte mich nicht wirklich. Zum anderen stand meine Abreise bevor und bis zu unserer gemeinsamen Silvesterfeier waren es noch sechs Wochen. Dazwischen lag mein Geburtstag Anfang Dezember.
Sina löste das Problem auf ihre bewährte Weise:
»Dann kommst Du eben vom 4. bis 11. Dezember zu mir.«
Als wir uns am Samstag verabschiedeten küsste Sina mich liebevoll und lange und sah mich eindringlich mit den Worten an:
»Wir schaffen es!«
Während der Fahrt telefonierten wir zweimal. Die Unstimmigkeiten waren durch Sinas zärtliche Verabschiedung weggewischt und ich fuhr zuversichtlich gen Norden. Ich sagte mir: ›Du bist zu empfindlich, sieh nicht immer