Max Braun, der eigentlich schon die zweihundert Meter zur Milchfrau als Langstreckenlauf empfand, hatte ein merkwürdiges Faible für den Marathonlauf, vielleicht deswegen, weil er die einzige Eins seiner gesamten Schullaufbahn für die Antwort chaírete nikômen bekommen hatte. Das hatte laut Überlieferung der griechische Soldat ausgerufen, der 490 vor Christus nach der Schlacht bei Marathon den über vierzig Kilometer langen Weg nach Athen gelaufen war, um den Triumph über die Perser zu melden: «Seid gegrüßt! Wir sind Sieger!» Nach diesem Ausruf war die Klasse vom Lehrer gefragt worden, und er, Max Braun, hatte die Antwort gewusst, weil er von seinem Großvater, der ein paar Jahre lang als Ingenieur in Griechenland gearbeitet hatte, mit allem Hellenischen traktiert worden war. Natürlich kannte er auch den Marathonsieger der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, den Griechen Spyridon Louis, und alle seine Nachfolger. 1924 in Paris, wo die Sonne an der Seine gebrannt hatte wie in der Sahara, war der vierzigjährige Finne Albin Stenroos als Erster durchs Ziel gelaufen, 1928 auf dem harten Kopfsteinpflaster von Amsterdam hatte der Algerier Boughera El Quafi gesiegt und 1932 auf den breiten, von Palmen gesäumten, aber schattenlosen Straßen von Los Angeles der kleine Argentinier Carlos Zabala.
Die Berliner Marathonstrecke war mit Sicherheit einzigartig, denn sie führte weithin durch den Grunewald. Vom Olympiastadion ging es über die S-Bahn hinweg zum Stößensee und dann auf der Havelchaussee bis hinunter zum Schlachtensee, wo auf der Avus weiterzulaufen war. Wendepunkt war an der legendären Nordkurve, dann hatten die Läufer auf demselben Weg ins Stadion zurückzukehren.
«Da müssen die Kampfrichter aba uffpassen, sonst kürzt da eena uff da Avus wat ab», sagte Lore. «Einfach mal uff de andre Fahrbahn jehüpft, und schon biste weit vor die anderen, wenn die erst inne Nordkurve müssen.»
Max beruhigte sie. «Da wird schon eena Obacht jeben.» Gleichzeitig fiel ihm aber ein, dass bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis der Amerikaner Frederick Lorz als Erster ins Stadion eingelaufen war und das Zielband zerrissen hatte. Nachdem ihn seine Landsleute jubelnd als Marathonsieger gefeiert hatten, war herausgekommen, dass er die Hälfte der Strecke in einem Auto zurückgelegt hatte.
«Alle Achtung!», rief Lore, als er ihr diese Anekdote erzählt hatte. «Da kannst du ja ooch Olympiasieja werden.» Dann rechnete sie und stellte fest, dass die Hälfte von 42 auch noch eine Menge war.
«Nee, du brichst mir ja schon nach ’m halben Kilometa zusammen.»
«Und du schon nach hundert Metern. Aba bei dir jibt et ooch noch ’n Fettfleck uff de Straße.»
Damit stiegen sie die lange Treppe zur Havelchaussee hinunter, und Max Braun beschlich ein hehres Gefühl, als sie unten auf dem Asphalt standen. «Hier wer’n se nun langkommen.»
«Willste etwa hier stehen und zusehen?», fragte Lore.
«Klar, ick nehm ma extra ’n Urlaubstag dafür.»
«Det kann doch nich dein Ernst sein!»
Max nickte. «Doch, det isset! Eene Macke muss der Mensch ja haben.»
«Dann musste aba ooch die janze Strecke abloofen», sagte Lore.
«Nee, nur bis nach Schildhorn und dann quer durch ’n Wald bis zur S-Bahn.»
«Komm ma, Bewegung tut dir jut.»
Max stöhnte auf. «Ick hab schon jenuch Bewegung jehabt heute morjen.» Damit meinte er seine Bemühungen, einen Sohn zu zeugen. Er gähnte demonstrativ.
«Keene Müdigkeit vorschützen. Nimm dir ’n Beispiel an dem Kammholz, wenn der beim Marathon hier langhetzen tut.»
Max Braun verdrehte die Augen. «Martin Kammholz läuft über 1500 Meter.»
«Is mir doch wurscht, aba ’n schöner Mann isset.» Sie hatte sein Photo neulich im Völkischen Beobachter gesehen, wo man ihn als eine der größten deutschen Olympiahoffnungen in der Leichtathletik gepriesen hatte. «Nu los!» Sie gab ihrem Mann einen kleinen Schubs.
Knapp fünf Kilometer lagen vor ihnen, doch sie waren keine dreihundert Meter gelaufen, da drückte Lore die Blase. «Ick muss ma mal inne Büsche schlagen.»
«Mach dit, aba pass uff, dette keem Unhold inne Hände fällst.»
Weil ihr die Sache doch genierlich war, entfernte sich Lore ziemlich weit vom Weg, und ihr Mann hatte sie bald aus den Augen verloren. Während er wartete, bückte er sich, um den Ameisen zuzusehen, die dabei waren, einen toten schwarzen Käfer auszuweiden. Ein Schrei ließ ihn hochfahren.
«Maxe, Hilfe, ’n Mann!»
Er stürzte in die Richtung, in die seine Frau gegangen war.
Da kam ihm Lore schon entgegengeflogen. «Da liegt ’n Tota, allet volla Blut!»
FÜNF
HERMANN KAPPE ließ den Sonntag ruhig angehen. Nach dem Frühstück hatte er sich auf die Toilette zurückgezogen, um den Völkischen Beobachter zu lesen, den sein Sohn vom Zeitungsstand an der Ecke geholt hatte. Jetzt war er schon auf der Seite mit Roman, Rätsel, Rundfunkprogramm und Wetterbericht.
Der Roman stammte aus der Feder von Martin Luserke und trug den Titel Obadjah und die ZK 14. Ein Seemann und sein Fischerboot dienten als Erkennungszeichen. Es ging um einen jungen Fischer, und da Kappe schließlich aus einer Familie von Fischern kam, hatte er angefangen zu lesen, obwohl er den Namen Obadjah fürchterlich fand. Ein gebildeter Kollege hatte gemeint, es sei der Name eines Propheten.
Kappe begann zu lesen: In Obadjahs Blut steckten die Erlebnisse zahlloser Geschlechter von Fischerleuten. Selbst während der Wanderjahre mitten im Binnenland hatte sein Gefühl einen Zusammenhang mit dem Gleichmaß von Flut und Ebbe draußen bewahrt. Kappe musste schmunzeln. Bei ihnen zu Hause am Scharmützelsee hatte es Ebbe nur in der Haushaltskasse gegeben und eine Art Flut nur zweibis dreimal im Jahr, wenn der Sturm, kam er von Norden, zwölf Kilometer lang über den See gefegt war.
Er ließ Obadjah Obadjah sein und vertiefte sich in den Wetterbericht für das Reich. In Süddeutschland und Schlesien war es noch stark bewölkt bis bedeckt, für Norddeutschland wurden Wolken und nur vereinzelte Regenschauer vorausgesagt. Allgemein sei es ziemlich kühl.
Nach dem Toilettengang setzte sich Kappe im Wohnzimmer an seinen Schreibschrank und vertiefte sich in eine neue Abhandlung über die Germanen: wie im Jahre 105 vor Christus die Kimbern und Teutonen die Römer bei Arausio an der Rhône vernichtend schlugen, 120 000 Legionäre und Trossknechte töteten und anschließend den Gefangenen die Kehlen durchschnitten oder sie aufhängten und sämtliche Kriegsbeute zerhackten und im Fluss versenkten. Furor Teutonicus hatten die Römer diese Raserei genannt. Kappe hatte die Germanen schon lange vor der Zeit geliebt, als Adolf Hitler durch die Lektüre der Ostara -Hefte zur Ansicht gelangt war, die Germanen seien allen anderen Völkern überlegen. Nun schämte sich Kappe irgendwie für seine Vorliebe, er wusste aber auch, dass sie bei seinen Vorgesetzten gut ankam und als ein gewisses Äquivalent für seine rote Herkunft angesehen wurde. Bei seinem Vornamen musste man ja automatisch an Hermann den Cherusker denken, von Hermann Göring ganz zu schweigen. Wenigstens hieß er nicht Horst, benannt nach Horst Wessel.
Bei Klara Kappe hatte alles seine feste Ordnung, und so stand jeden Sonntag Punkt halb eins das Mittagessen auf dem Tisch, egal, ob einer schon Hunger hatte oder nicht. Außerdem bestand sie darauf, ein Menü zuzubereiten, wobei die Variationsbreite nicht eben groß war. Vor- und Nachspeise waren im Sommer immer gleich: Tomatensuppe vor und Grießpudding mit Kirschkompott nach dem Hauptgericht. Das lag daran, dass sie Tomaten und Kirschen ebenso billig wie frisch aus Wendisch Rietz bekam, wo Kappes Bruder Albert einen großen