Bella und Paul. Uwe Kirst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uwe Kirst
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783941935839
Скачать книгу
Auto; die Straßenbeleuchtung war erloschen, ich wusste nicht, warum.

      Sie fuhr konzentriert, wir sprachen nicht, ich atmete Nähe, innere Ruhe. Ihr Geschmack war auf meinen Lippen.

      Wir kamen an und sie stieg mit mir aus, trat vor mich hin und legte mir beide Hände auf die Schultern. In ihren Augen sah ich ein Licht. Ihre Fingerspitzen berührten mein Gesicht, einer Umarmung wich sie aus, stieg in ihren Wagen, setzte den Motor in Gang und fuhr davon.

      In meinem Zimmer angekommen, lag ich lange wach und im Kopf lösten sanft bewegte Bilder einander ab, bis ich einschlief.

      Meine Kollegen begrüßten mich am nächsten Morgen: »Haben Sie den Abend gut verbracht? Unsere Kollegin Maria haben Sie ja leider verpasst, sie hat gestern angerufen, dass sie eine Zeit gewartet hätte, dann aber gehen musste. Das macht aber nichts – dann zeige ich Ihnen in den nächsten Tagen selbst, was sehenswert ist.«

      In mir strahlte das Bild von Maria, das Schimmern ihrer Haut, ihre berührende Stimme, der Laut, der uns entrückte.

      »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er klang besorgt.

      »Ja, ja«, beeilte ich mich zu sagen. »Natürlich. Danke, alles gut.« Ich erhob mich, ordnete meine Unterlagen und suchte nach dem Zettel, auf dem ihre Adresse notiert war. Ich fand ihn nicht.

      Kreisel

      Der Rückspiegel machte ihn wahnsinnig. Sein leichtes Vibrieren ließ das, was er sehen wollte, so verschwimmen, dass kaum zu erkennen war, ob sich ein oder zwei Fahrzeuge von hinten näherten. Das alles bei Linksverkehr, der ihm zwar vertraut war, aber in den ersten Stunden nach seiner Ankunft Konzentration forderte.

      »Ja, ich freue mich.« Sein Lächeln, das niemand sah, hätte trotzdem jeden für ihn eingenommen. »Eine schöne Aufgabe in meinem England!«

      Er schmunzelte über diese Vereinnahmung all dessen, was wir irgendwann und irgendwo einmal erlebt oder nur wahrgenommen hatten. Was wem in der Welt alles gehören würde, gäbe es eine diesbezügliche Software, die das erfasste. Lange würde es nicht dauern, bis biomechanische Rechner im Nanobereich am Körper befestigt oder gar integriert waren. Sie lieferten das dann als nette Zusatzinfo. Und garantiert nicht nur dem Träger des digitalen Kunstwerks. Allein London gehörte so, laut dieser Statistik, fast der halben Welt. Der Halbwelt war es ja schon heute zugefallen, so wirkte es inzwischen zumindest auf ihn.

      Diese Fahrt war seit langem wieder die erste auf den Britischen Inseln. Hierher eingeladen zu sein – ein Auftrag, der ihn im Herzen freute. Samt der Besonderheiten hiesiger Usancen im Verkehr. Die Kreisel vor allem – der erste kam sicher bald – und da war er schon. Rechts einordnen, rechts blinken, dann links in ihn einbiegen, sich dabei aber erneut rechts halten, um ihn vier Ausfahrten später wieder links verlassen zu können. Klingt wie ein Vortrag über den Gebrauch des Gerundiums in der englischen Sprache. Kaum Staus an solchen Knotenpunkten gaben den Erfindern dieses Verkehrsprinzips aber recht.

      Er entspannte sich spürbar, als die weiten Flächen der Wiesen und Felder in leichten Wellen den mühsamen Straßen der Kleinstadt gewichen waren, gesäumt von niedrigen Mauern und Hecken, die, ebenso geschwungen, klare Areale schufen, Besitzverhältnisse verkündend. Sie waren niemals höher, als ein Pferd im Sprung überwinden kann, ohne zu scheuen, denn die Einfriedungen der Äcker durften die wilde Jagd der Landlords nicht stoppen. Ein altes Gesetz englischen Adels, das zunehmend bedeutungslos wurde. Obgleich – hier in Yorkshire tickten viele Uhren anders, als im Süden des Landes. Es war über zwei Jahrzehnte her, dass ihn sein Weg in diese Grafschaft geführt hatte; und so genoss er diesen Tag als zweiten Fußpunkt der Ereignisse seines Lebens, das aus einem wahren Kuppelbau solcher Erinnerungsbögen bestand.

      Die Hecken am Straßenrand, durchbrochen von krumm gewachsenen Bäumen, verbargen oft Steinbalken, Bordsteinen ähnlich. Ihnen zu nahe zu kommen, vermied er; dem Gegenverkehr einen Außenspiegel zu opfern allerdings desgleichen. Trotzdem liebte er diese schmalen Straßen, die selten geradlinig verliefen und die ihm eine spontane Abstimmung mit entgegenkommenden Fahrzeugen abforderten; frei zu sein, erkunden und entdecken, auf sich selbst gestellt – das liebte er. Nur nicht zu Fuß in Kratergelände, sondern eher mit gefülltem Tank und Luxusfahrwerk.

      Sein Ziel war nicht mehr weit und seine Gastgeber hatten einen Gesprächsort für das Treffen gewählt, den er in berührender Erinnerung hatte - als einen seiner ersten Aufenthalte in diesem Land: Middlethorpe Hall. Hochnäsig schlichtes Manor aus dem 18. Jahrhundert inmitten eines Prinzessinnenparks mit Springbrunnen und bemoosten Skulpturen. Die frühere Auffahrt wurde zum Hotelentree und hinter dem Gebäude eine langgestreckte Terrasse, auf der weiße Tische und Stühle standen – nur die Queen mit ihrem Gefolge fehlte.

      Eine Dunststickerei schwebte über den Wiesen; die Sonne zog das Nass aus den Grasbüscheln und Kriechgehölzen, leckte Pfützen flach und versuchte sich am Schattenmalen.

      Sein erstes Erlebnis in Middlethorpe Hall war die Einladung seines damaligen Geschäftsfreundes John Forbes aus York, ein verschmitzter Anwalt, dessen Leibesfülle seine Beweglichkeit nicht einschränkte. Präsident des Anwaltsvereins, in aller Gestik getragen von altenglischer Würde, die sich mit lebhafter Intelligenz verband. Seine nicht minder ausladende Ehefrau war Französin von Geburt und vereinte überzeugend die englische Küche mit südländischer Leichtigkeit und dem unnachgiebigen Anspruch auf Qualität und Einfachheit. Die Tochter war zur Zeit in Deutschland; den Fotos nach eine Schönheit.

      Zum vorläufigen Abschied von England baten sie ihn zu einem Herrenessen im altenglischen Ambiente, an einer Tafel mit Silberbesteck, Römern und süffigem Wein. Alle waren ihm gewogen und in seinem Inneren formte sich ein Anker für diese Menschen, dieses Land und diesen Platz. Nach dem Dinner führte ihn sein Gastgeber zu einem Kaminzimmer, wo sie in dunkelbraunen Ledersesseln einen Whisky tranken, der vierundzwanzig Jahre alt war und von einer Destille aus Islay stammte. Die Erklärung fehlte in seiner Erinnerung, aber der Respekt, mit dem sein Gastgeber das Getränk behandelte, klang in ihm nach.

      Jetzt wäre er fast von der Straße gerutscht. »Was für ein Idiot, zu schnell und auf der falschen Seite! Mietwagen! Naja. Wenn ich keine Ahnung habe, dann fahre ich doch langsam!«

      Da fiel ihm sein erster Tag mit Linksverkehr ein, auf Malta – er hatte den Wagen zehn Minuten. Mitten über den Kreisel war er gefahren, weil er sich nicht entscheiden konnte: rechts oder links vorbei. Jeder war sofort stehengeblieben und hatte ihn durchgelassen, den Mietwagenfahrer – auf Malta ging das.

      Wie es heute wohl hier aussehen wird? In den vergangenen Jahren gerieten ihm verinnerlichte Bilder zu Synonymen für Großbritannien. Gefühle, Formen, Farben hatten sich mit diesen Tagen in Yorkshire verwoben und dazu beigetragen, dass sein Interesse an diesem Land wachblieb, obwohl es nichts gab, das ihn beruflich damit verband. Die lukrative Vortragsreise durch Nordengland und Schottland würde das ändern – seine Agentur in Berlin hatte ihm den Kontakt vermittelt.

      Warum es Middlethorpe Hall war, das zum Treffpunkt für den Erstkontakt wurde, konnte er nur vermuten. Offenbar war es nach wie vor ein bestens geeigneter Ort, um vom Glanz des britischen Empire zu künden, nachdem in der Gegenwart eher kleingeistige Strömungen von wenig staatsmännischer oder gar weltpolitischer Kompetenz kündeten.

      Er hatte ernsthaft erwogen, diese Reise zu nutzen, um gegebenenfalls ein Refugium zu finden; hier, im Harry-Potter-Land. Zum Abschalten, Nachdenken, Ideenentwickeln – gepfiffen auf den Brexit. Er war allein, voller Sehnen nach Heimatlichkeit, die in Deutschland Gemütlichkeit hieß und wie Staub und Lavendelsäckchen roch.

      Das erwartete Gespräch lockte ihn, denn der hiesige Partner hatte Letitia Brown angekündigt. Sie war Leiterin einer PR-Agentur mit einem speziellen Bildungsauftrag zur Förderung des europäischen Gedankens im Vereinigten Königreich. Das klang zwar fast anachronistisch in dieser Zeit, aber er trug gern dazu bei, die Vorzüge eines innovativen Europas zu erläutern, wo immer man ihm zuhörte. Er liebte es, wenn ihm Menschen aufmerksam lauschten. Sie hatte oft in Deutschland gearbeitet, er hoffte auf anregende Gedanken und den Geist einer Britin.

      Nachdem die Straße durch eine moorige Fläche geführt hatte, in der versprengte Schafe mit roten