Die Farbe der Leere. Cynthia Webb. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cynthia Webb
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Ужасы и Мистика
Год издания: 0
isbn: 9783867549387
Скачать книгу
hätte sie jetzt vernommen, dass er wieder auf die Privatschule ging, deren Besuch sie ihm ermöglicht hatte. Er war dort in die neunte Klasse eingestiegen. Seine Noten waren von der ersten Woche an überragend. Er schrieb für die Schulzeitung. Sein Gesangstalent wurde entdeckt und sein Stipendium erweitert, um Stimmbildung und Einzelunterricht mit abzudecken.

      Seine Lehrer hätten sich sicher nicht ungern das Verdienst an seinen Erfolgen zugeschrieben. Aber, so dachte Katherine, sie mussten vom ersten Moment der Begegnung an gewusst haben, dass das alles allein von Jonathan ausging und mit niemandem sonst zu tun hatte. Und dieselben Lehrer waren völlig entgeistert, als er die Schule verließ, und gaben nur höchst vage Erklärungen dazu ab. Ihre Entrüstung stand in keinem Verhältnis zu der erlittenen Zumutung. Es gehen ständig Kinder von Schulen ab, aus guten und aus schlechten Gründen, und in manche von ihnen haben die Lehrer viel Anstrengung investiert. Doch in Jonathans Fall kreideten sie ihm seine Undankbarkeit mit besonderem Ingrimm an.

      Katherine verstand diesen Unmut. Sie empfand ihn selber.

      Doch wie Mrs. Williams’ betretener Blick ihr schon verriet, drehte sich diese Neuigkeit nicht darum, dass Jonathan wieder beim Griechischstudium war und die Hauptrolle im Schul­musical spielte. »Er wurde umgebracht, Ms. McDonald. Sie haben doch von dem Serienmörder gehört, der hier die zwei Jungs gekillt hat?«

      Das hatte Katherine nicht. Die New York Times brachte nur die sensationellsten Verbrechen, und sie las weder Boulevardblätter noch die Stadtteilzeitungen der Bronx. Benommen nickte sie, um sich Zeit zu verschaffen, das Gehörte zu verdauen. Nein, Mrs. Williams musste sich irren. Oder Katherine hatte sie nicht richtig verstanden.

      »Er hat auch Jonathan erwischt. Sie haben die Leiche des ­armen Jungen gestern gefunden.«

      Der offene Kummer in Mrs. Williams’ Gesicht entfachte in Katherine einen plötzlichen Zorn. Wir haben es hier jeden Tag mit Tod und ruinierten Kindern zu tun, dachte sie, wir können nicht um jeden Einzelnen weinen. Mit vorgetäuschter Ruhe schickte sie Mrs. Williams aus dem Raum und wandte sich dem Jungen zu, der still neben ihr gestanden hatte. Laut Akte war er dreizehn, sonst hätte Katherine ihn eher auf zehn geschätzt. Jose war unnatürlich dünn und hinkte auf Beinen daher, die an verdrehte Zweige erinnerten. Seine braunen Augen waren gesprenkelt mit goldenen Flecken.

      Sie wies den Jungen an, sich auf den harten Stuhl zu setzen, der neben ihrem Schreibtisch stand, dann besann sie sich und platzierte ihn in ihrem eigenen gepolsterten und bequemeren Bürosessel. Er wirkte darin noch kleiner.

      Sie hatte die medizinischen Berichte schon gelesen. Sie wusste, dass Jose, sein jüngerer Bruder und seine kleine Schwester alle an Herpes, Tripper, Chlamydien und Feigwarzen litten. Das war ein Thema, das sie nicht mit Jose besprechen musste. Sie brauchte von ihm keine Zeugenaussage zum medizinischen Sachverhalt. Nach den Statuten hatten ärztliche Diagnosen in einem Kinderschutzverfahren automatisch Beweiskraft.

      Der Nachweis, dass ein Kind geschlechtlich übertragene Krankheiten hatte, genügte für eine Missbrauchsklage, sofern keine glaubwürdige Erklärung seitens der Eltern vorlag. Rein technisch gesehen musste sie nur die Diagnose zur Beweisaufnahme einreichen und nachweisen, dass das Kind bei den Beklagten, den Eltern und dem ebenfalls dort lebenden Onkel, wohnte. Damit konnte sie durchkommen, ohne Joses Aussage überhaupt zu brauchen.

      Der Anwalt der Eltern mochte jedoch anführen, dass der Junge Möglichkeiten hatte, die Wohnung zu verlassen, auf Abenteuer auszugehen und sich die Geschlechtskrankheiten auf eigene Faust zuzuziehen. Diese Erklärung war allerdings schon gewagt, was seinen siebenjährigen Bruder betraf, und würde bei der fünfjährigen Schwester sicherlich nicht mehr tragen. Aber vielleicht würde der Verteidiger so weit gehen zu behaupten, Jose selbst hätte seine jüngeren Geschwister ­infiziert.

      Katherines Hoffnung war nun, dass Jose sich als brauchbarer Zeuge erwies, so dass diese potenzielle Hintertür für die Eltern und den Onkel zugeschlagen würde.

      Aber Kinder waren als Zeugen generell nicht verlässlich. Sie konnten im Zeugenstand plötzlich alles Mögliche behaupten und taten es auch. Fast jeder Anwalt der Dienststelle konnte eine Horrorgeschichte erzählen, die das belegte.

      Ganz abgesehen von diesem Aspekt der Unvorhersagbarkeit war es Katherine zuwider, die geschädigten Kinder weiterer Unbill auszusetzen. Sie würde ein Kind nie als Zeugen einvernehmen, wenn es nicht absolut notwendig war. Aber ihr lag sehr daran, dass die Eltern wegen Missbrauchs verurteilt wurden – sie wollte nicht, dass sie mit Vernachlässigung davonkamen. Also brauchte sie seine Aussage.

      Jose saß da, die Schultern hochgezogen, mit hängendem Kopf.

      »Weißt du, wer ich bin?«

      Er schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. Zwei Anwälte an einem Vormittag war mehr, als ein Kind zu bewältigen haben sollte.

      »Ich bin Katherine McDonald. Ich handele im Auftrag des Amts für Kindeswohl. Ich bin ACS-Anwältin, aber nicht deine Anwältin. Ms. Jasper ist deine Anwältin.«

      Vermutlich gingen die Spitzfindigkeiten, mit denen sie ihn überschütten musste, über sein Verständnis. Wobei ­Katherine sogar fand, es wäre besser für ihn, nicht zu verstehen, wie wenig Macht und Möglichkeiten er hatte. Was half es ihm zu wissen, dass er in die Maschinerie der städtischen Behörden geraten war und sein Schicksal jetzt in den Händen von unterbezahlten, überarbeiteten Zahnrädchen lag?

      Er nickte.

      »Hat Ms. Jasper dir gesagt, dass es okay ist, mit mir zu ­reden?«

      Er nickte wieder. Sie erklärte ihm, dass es ihr Job war, dem Richter seinen Fall vorzutragen. Sie vertrat vor Gericht das Amt für Kindeswohl. Seine Rechtsanwältin, Jeanine, vertrat Jose, seinen Bruder und seine Schwester. Ein dritter Anwalt, vom Gericht ernannt, vertrat seine Eltern, ein vierter seinen Onkel. Sie war sicher, dass er ihr nicht mehr folgen konnte, aber die Zeit lief ihr davon, und so ackerte sie sich weiter hindurch.

      Jose würde als Zeuge auftreten, es war wichtig für ihn, dem Richter die Wahrheit zu sagen, erklärte sie. »Das ist das Familiengericht, also kann dieser Richter niemanden ins Gefängnis stecken. Wenn eine Straftat festgestellt wird, verhandelt das ein anderes Gericht mit anderen Anwälten und einem anderen Richter. Der Richter vom Familiengericht stellt nur fest, ob dir oder deinen Geschwistern etwas angetan wurde, und wenn ja, wie ACS euch am besten helfen kann.«

      Jose blickte auf, und sie erschrak vor der kalten Intelligenz in seinen Augen. Dieser Junge würde bestimmt nicht so tun, als glaubte er, sein Schicksal läge ihr am Herzen. Sie musste weder mit seinen Eltern weiter in der schäbigen Wohnung leben noch sich in ein lausiges Pflegeheim stecken lassen. Er beantwortete ihre Fragen mit einer vernehmlichen Provokation im Ton. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie hatte nichts getan, um sich sein Vertrauen zu verdienen.

      Er berichtete, wie er und seine Geschwister bei seinen Eltern und seinem Onkel gelebt hatten. Es war der Onkel, der ihn sexuell missbraucht hatte, wobei er diesen Ausdruck nicht benutzte. Später hatte der Onkel auch Freunde mitgebracht, die das Gleiche taten, als Gegenleistung für Drogen oder Geld. Jose erklärte, seine Eltern hätten von all diesen Aktivitäten in ihrem Haushalt absolut nichts mitbekommen. Das war der Punkt, an dem Katherine ihm nicht glaubte.

      Gemessen am Durchschnitt von Katherines Fällen war dieser nicht besonders schockierend. Sie ging davon aus, dass nichts, was Familienmitglieder einander antun konnten, sie noch zu schockieren vermochte.

      Jose beschrieb seine zahllosen Vergewaltigungen in einer klaren, emotionslosen Sprache. Oft sah er ihre nächste Frage voraus und beantwortete sie schon, bevor sie sie stellte. Das war an und für sich nichts Neues. Die Gefühlstaubheit, die Missbrauch oft zur Folge hat, konnte so eine Haltung hervorrufen. Aber in diesem Fall, dachte sie, war da noch etwas anderes. Sie hatte das Gefühl, dass Jose genau wusste, wie der Kontrast zwischen den grausamen Fakten und seinem sachlichen Berichts­ton das Entsetzen des Zuhörers steigerte. Aber nein, sagte sie sich, der Junge konnte unmöglich so raffiniert sein.

      Jonathan war genauso brillant gewesen, aber ihm fehlte gänzlich Joses Zynismus. An den fernen Rändern ihres Bewusstseins schwebte die Erinnerung an Jonathan wie ein Schatten. Sie stieß sie