Wir können einen der umstrittensten Punkte – die ›Falschheit‹ oder die Verzerrungen der Ideologie – von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Es ist bekannt, dass für Marx die spontanen Kategorien des gewöhnlichen bürgerlichen Denkens ihre Grundlage in den Formen auf der ›Oberfläche‹ des kapitalistischen Kreislaufes haben. Marx stellte insbesondere die Bedeutung des Marktes und des Austausches fest, wo Verkäufe und Profite gemacht werden. Dieser Zugang lässt, so Marx, den kritischen Bereich – die ›verborgne Stätte‹ – der kapitalistischen Produktion selbst außer Acht. Einige seiner wichtigsten Formulierungen entspringen diesem Argument.
Zusammengefasst lautet es wie folgt: Der Austausch auf dem Markt erscheint als das, was im Kapitalismus die ökonomischen Prozesse regiert und reguliert. Die Marktverhältnisse stützen sich auf eine Reihe von Elementen, und diese erscheinen (sind repräsentiert) in jedem Diskurs, der von diesem Standpunkt aus versucht, den kapitalistischen Kreislauf zu erklären. Der Markt führt, unter den Bedingungen des gleichen Tauschs, Konsumenten und Produzenten zusammen, die nichts voneinander wissen – und wissen müssen, sofern die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes da ist. Ebenso bringt der Arbeits-Markt jene zusammen, die etwas zu verkaufen (Arbeitskraft) und solche, die etwas dafür zu bezahlen haben (Löhne): ein ›gerechter‹ Preis wird ausgehandelt. Da der Markt wie durch Zauberei funktioniert, indem er ›blindlings‹ die Bedürfnisse und ihre Befriedigung aufeinander abstimmt, gibt es darin keine Zwänge. Wir können ›wählen‹, ob wir kaufen und verkaufen wollen oder nicht (und wohl auch die Konsequenzen tragen: diese Seite ist jedoch nicht so gut repräsentiert in den Marktdiskursen, die auf der positiven Seite der Wahlmöglichkeiten mehr ausgearbeitet sind als bezüglich der negativen Konsequenzen). Käufer und Verkäufer brauchen weder den Antrieb durch guten Willen noch Nächstenliebe oder Kameradschaft, um im Markt-Spiel erfolgreich zu sein. In der Tat funktioniert der Markt am besten, wenn jede Partei sich nur durch ihr Eigeninteresse beraten lässt. Er ist ein System, das durch die realen und praktischen Imperative des Eigeninteresses angetrieben wird. Dennoch verschafft er ringsum eine bestimmte Art von Befriedigung. Der Kapitalist stellt Arbeitskraft ein und macht seinen Profit; der Grundbesitzer vermietet sein Eigentum und erhält eine Rente; die Arbeiterin erhält ihren Lohn und kann so die Lebensmittel kaufen, die sie braucht.
Nun ›erscheint‹ aber der Austausch auf dem Markt auch in einem ganz anderen Sinn. Er ist der Teil des kapitalistischen Kreislaufes, den jeder klar sehen kann, das Stückchen, das wir alle täglich erfahren. Ohne zu kaufen und zu verkaufen, würden wir in einer Geldwirtschaft alle sehr schnell physisch und gesellschaftlich zu einem Stillstand kommen. Sofern wir nicht gründlich in andere Aspekte des kapitalistischen Prozesses verwickelt sind, wissen wir nicht unbedingt viel über die anderen Teile des Kreislaufes, die notwendig sind, wenn Kapital verwertet und der ganze Prozess reproduziert und erweitert werden soll. Und doch gibt es nichts zu verkaufen, wenn keine Waren produziert werden, und es ist zuallererst die Produktion – das jedenfalls hat Marx nachgewiesen –, in der die Arbeit ausgebeutet wird. Währenddessen ist die Art der ›Ausbeutung‹, die eine Marktideologie allenfalls sehen und begreifen kann, das ›Profitieren‹ – einen zu großen Anteil am Marktpreis zu erzielen. Der Markt ist damit der Teil des Systems, dem universell begegnet und der universell erfahren wird. Er ist der augenfällige, sichtbare Teil: der Teil, der beständig erscheint.
Wenn man nun diese generative Kategorienreihe, die auf dem Markttausch basiert, extrapoliert, dann ist es möglich, sie auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen und auch diese als nach einem ähnlichen Modell konstitutiert zu betrachten. Und dass genau dies der Fall ist, deutet Marx in einer mit Recht berühmten Passage an:
»Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« (MEW 23, 189 f)
Kurz, unsere Ideen von ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹, ›Eigentum‹ und ›Bentham‹ (d.h. Individualismus) – die herrschenden ideologischen Prinzipien des bürgerlichen Lexikons und die Schlüsselthemen der Politik, die in unseren Tagen unter den Auspizien von Mrs. Thatcher und dem Neoliberalismus ein machtvolles und unwiderstehliches Comeback auf der ideologischen Bühne erlebt haben – können von den Kategorien abgeleitet werden, die wir in unserem praktischen Alltags-Denken über die Marktwirtschaft verwenden. So entstehen aus der täglichen Welterfahrung die mächtigen Kategorien des bürgerlichen, rechtlichen, politischen, sozialen und philosophischen Denkens.
Dies ist ein kritischer locus classicus der Debatte; Marx extrapolierte daraus einige der Thesen, die dann das umkämpfte Gebiet der Ideologietheorie darstellen sollten. Erstens fixierte er als eine Quelle von ›Ideen‹ einen bestimmten Punkt oder ein bestimmtes Moment des ökonomischen Kreislaufs des Kapitals. Zweitens zeigte er, wie die Übersetzung der ökonomischen in ideologische Kategorien bewirkt werden kann: vom Äquivalententausch auf dem Markt zu den bürgerlichen Begriffen von ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹; von der Tatsache, dass jeder die Tauschmittel besitzen muss, zu den juristischen Kategorien der Eigentumsrechte. Drittens definiert er genauer, was er mit ›Verzerrung‹ meint. Denn dieses ›Abheben‹ von der Stelle des Austauschs im Kapital-Kreislauf ist ein ideologischer Vorgang. Er ›verschleiert, verbirgt, versteckt‹ – die Ausdrücke kommen alle im Text vor – ein anderes Set von Verhältnissen: die Verhältnisse, die nicht an der Oberfläche erscheinen, sondern die »in der verborgnen Stätte der Produktion« (MEW 23, 189) versteckt sind (dort, wo Besitz und Eigentum hausen, wo die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Enteignung von Mehrwert vor sich gehen). Die ideologischen Kategorien ›verbergen‹ diese darrunterliegende Realität und substituieren all diese Verhältnisse durch die ›Wahrheit‹ der Marktverhältnisse.
In vielfacher Hinsicht enthält nun diese Passage all die so genannten Hauptsünden der klassischen marxistischen Ideologietheorie auf einmal: einen ökonomischen Reduktionismus, eine zu einfache Entsprechung zwischen dem Ökonomischen und dem Politisch-Ideologischen; die Unterscheidungen wahr/falsch, Reales/Verzerrung, ›richtiges‹ Bewusstsein/falsches Bewusstsein. Möglich scheint mir jedoch auch eine ›Re-Lektüre‹ der Passage vom Standpunkt vieler zeitgenössischer Kritiken, und zwar in der Weise, dass (a) viele der grundlegenden Einsichten des Originals erhalten bleiben, während sie (b) erweitert werden durch einige der in letzter Zeit entwickelten Ideologietheorien.
Die kapitalistische Produktion wird im Sinne von Marx als Kreislauf definiert. Dieser Kreislauf erklärt nicht nur Produktion und Konsumtion, sondern auch die Reproduktion – die Art und Weise, wie die Bedingungen aufrechterhalten werden, um den Kreislauf in Gang zu halten. Jedes Moment ist lebenswichtig für die Erzeugung und Realisierung des Werts. Jedes legt gewisse determinierende Bedingungen für das andere fest – d.h., jedes ist abhängig vom anderen oder bestimmend für das andere. Wenn also ein Teil des durch Verkauf Realisierten nicht als Lohn an die Arbeit gezahlt wird, kann die Arbeit sich weder physisch noch gesellschaftlich reproduzieren, um am nächsten Tag wieder zu arbeiten und zu kaufen. Damit hängt auch die Produktion von der Konsumtion ab, auch wenn Marx in der Analyse dazu tendiert, den analytisch vorrangigen Wert der Produktionsverhältnisse zu betonen. (Dies hatte selbst wiederum ernsthafte Konsequenzen, weil es bestimmte Marxisten veranlasste, nicht nur der Produktion Priorität einzuräumen, sondern so zu tun, als hätten die Momente der Konsumtion und des Austauschs