„Meine Adresse. Falls ihr mich mal braucht.“
Gina räusperte sich und sagte: „Vielen Dank, ähm … Hieronymus, aber trotzdem möchte ich wissen, warum Gänseblümchen nun gefährlich sind.“
Die andern auf der Rückbank blickten sich vielsagend an.
Hieronymus ließ die Hände sinken und blickte träumend nach draußen.
„Oh, ihr Glücklichen, wenn ihr‘s nicht wisst. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Tochter Gänseblümchen im Haar gehabt hat.“
Gina zuckte zusammen, weil Hieronymus‘ Kopf auf das Lenkrad knallte. Dann hörte sie, wie er laut schluchzte. „Stellt euch das vor: Gänseblümchen im Haar!“
Er hob den Kopf, wischte sich über die Augen und sagte: „Gänseblümchen sind gemein. Sie töten hemmungslos, wo sie können. Natürlich sind nicht alle Gänseblümchen so. Das ist ja das Gemeine. Aber man weiß nie. Am besten nicht anfassen, sonst bist du erledigt. Mein Gott! Gänseblümchen im Haar!“
Er blickte wieder sinnend ins Weite, dann fuhr er fort und seine weinerliche Stimmung war verflogen. Stattdessen kam Wut hoch: „Aber daran ist nur dieser Vogel schuld. Wenn ich es könnte, ich würde seinen Kopf mit meinen bloßen Händen umdrehen, und es würde mir das größte Vergnügen bereiten …“
Die drei saßen schweigend im Auto und begriffen immer weniger. Als Hieronymus nichts mehr von sich gab und nur verzweifelt nach draußen sah, sagte Gina vorsichtig: „Also … wir steigen dann mal aus und vielen Dank fürs Mitnehmen.“
Sie öffnete leise die Tür und kletterte aus dem Auto. Die anderen taten es ihr nach. Hieronymus blickte auf, nickte den Kindern zu, tippte an seine Stirn, als trüge er eine Mütze, und fuhr weiter.
Als das Auto um die Ecke gebogen war, sagte Joker: „Mann! Das war das Schärfste, was ich je erlebt habe. Da fuchtelt dieser Hieronymus doch echt mit einem Revolver in der Luft herum und erschießt Gänseblümchen. Ich glaube, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
„Scheint mir auch so“, sagte Phil. „Diese stechenden Augen gefielen mir von Anfang an nicht.“
„Ich möchte jetzt nur eins“, erklärte Gina mit selten entschlossener Stimme: „Ich will möglichst schnell die Straße zurückgehen bis zu unserem Stein, leise durch den Wald schleichen, mich in die Kugel stürzen und auf der netten, harmlosen, gemütlichen Schonung ankommen, dann nach Hause gehen, duschen, lange schlafen und nie mehr diesen Wald besuchen.“
„Ich schließe mich meiner Vorrednerin an“, sagte Joker.
„Okay“, meinte Phil. „Ich komm auch mit, schließlich kann man euch nicht so allein durch die Gegend gehen lassen.“
Sie gingen im Sturmschritt die Straße zurück. Nach kurzer Zeit lief ihnen der Schweiß nur so herab, aber das war ihnen gleichgültig.
Sie erreichten den Stein, bogen zum Wald ab und schlichen mucksmäuschenstill den Weg entlang. Keine Nüsse flogen durch die Luft. Jokers Beobachtung musste eine Täuschung gewesen sein. Sie kamen zu dem abgebrochenen Baum, und da war auch schon ihre kleine Lichtung.
Mit großer Erleichterung sahen sie dort die Kugel liegen. Einer nach dem anderen verschwand darin.
Als sie alle wohlbehalten wieder auf dem Boden ihrer Tannenschonung saßen, sagte Phil: „So, und jetzt müssen wir mal überlegen, was das Ganze bedeuten soll.“
Joker stand auf. „Das können wir auch unterwegs bereden.“
Aber so sehr sie auch alles durchsprachen, richtig verstehen konnten sie die Ereignisse nicht.
Gina meinte: „Wahrscheinlich war ein anderer Junge in dem Wald und hat nach uns geworfen, und Joker hat zufällig ein Eichhörnchen gesehen. Und dass dieser Hieronymus nicht ganz dicht war, ist doch jedem klar gewesen, oder? Gänseblümchen als Killerblumen! So ein Quatsch!“
„Ich fand es beruhigend, dass die Ortschaft irgendwo in unserer Nähe sein muss. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor“, sagte Phil.
Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag bei Gina, und Joker meinte, es sei gut, eine Nacht darüber zu schlafen.
Und so gingen Ginas Wünsche tatsächlich in Erfüllung. Sie duschte, ging früh ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.
Nur ihr letzter Wunsch, nie mehr den zeitlosen Wald zu besuchen, ging nicht in Erfüllung.
„So, dann gib mal die Karte her“, sagte Phil.
Er lag mit dem Rücken auf Ginas Couch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Du führst dich auf, als ob du hier der Chef wärst“, giftete Gina zurück.
„Meine Güte, bist du empfindlich!“, brummte Phil und rappelte sich auf. „Sind alle Italienerinnen so?“
„Das hat damit gar nichts zu tun. Es kommt auf den Ton an. Ich bin schließlich nicht deine Sklavin.“ Sie öffnete die Tür und ging hinaus.
„Mamma mia!“, murmelte Phil.
„Komisch“, ließ sich Joker hören, der vor dem Tisch saß, schon längst die Karte studierte und auf das kurze Wortgefecht gar nicht geachtet hatte. „Es gibt hier in der Gegend eine Ortschaft, die Grabstetten heißt, aber ich meine, auf dem Ortsschild gestern stand Garbstetten.“
Phil, der aufgestanden war und sich auch über die Karte beugte, nickte. „Ja, ich bin ziemlich sicher, dass ich auch Garbstetten gelesen habe. Na, vielleicht ein Druckfehler, aber wie auch immer, das sind ungefähr fünfzehn Kilometer, die könnten wir mit unseren Rädern locker hin und zurück fahren. Und dann sehen wir ja, ob das die Ortschaft ist oder nicht.“
Die Tür ging auf, und Gina erschien mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit Cola und eine Schale mit Nüssen standen.
Sie stellte das Tablett ab und reichte Joker demonstrativ als erstes ein Glas.
„Danke.“
Phil, der das Manöver verfolgt hatte, griff zum nächsten Glas und überreichte es Gina mit einer kleinen Verbeugung: „Signorina?“
Unwillkürlich musste Gina lächeln und nahm die Cola in Empfang. Und wenn Gina lächelte, wurde es gleich viel heller im Raum.
„Grazie.“
Joker tippte sich wortlos an die Stirn.
„Also, dann fahren wir gleich mal hin“, schlug er vor.
„Wo fahren wir hin?“, fragte Gina.
„Wir haben diese Ortschaft von gestern gefunden, aber sie heißt nicht Garbstetten, sondern Grabstetten.“
„Klar, Grabstetten kenne ich. Das liegt doch hier in der Nähe. Ich hab mich gestern schon gewundert über den Schreibfehler. Und das auf einem Ortsschild!“
„Na ja“, meinte Joker, „vielleicht ist es ja gar nicht der Ort, wo wir gestern waren, vielleicht gibt es ja Garbstetten und Grabstetten.“
„Hm“, sagte Phil, „das können wir doch im Inhaltsverzeichnis nachprüfen.“ Er wandte sich an Gina: „Hast du zufällig einen Atlas im Haus? Und wenn ja, hättest du die Güte, ihn mir zu geben?“
„Siehst du, du kannst höflich sein, wenn du willst! Natürlich habe ich einen Atlas hier: den Schulatlas.“
Sie ging zu dem einzigen Regal in ihrem Zimmer und zog ein dickes gebundenes Buch heraus.
Phil nahm es in die Hand, legte es auf den Tisch und suchte im Inhaltsverzeichnis.