Was ihr aber nie verloren ging in den schwierigen Jahren ihres Exils, war dieses unerschütterliche Vertrauen in das Leben und in die Menschen, dieses Urvertrauen, das sie in ihrem Elternhaus erworben hat. Es half ihr, die Schrecken des vorigen Jahrhunderts zu überstehen, und ließ in ihr die „Dennoch-Hoffnung“ wachsen und reifen. Es war das Selbstverständliche, die bedingungslose Annahme, die sie von den Eltern erfuhr, die es ihr immer wieder ermöglichten, gegen den Strom zu schwimmen und sich zwischen alle Stühle zu setzen. „Ich durfte alles“, sagt sie zu mir in unserem Gespräch, „ich durfte sogar die Wahrheit sagen. Wunderbar!“
Den Band „Gesammelte Essays“, der 1992 erschien, widmete Hilde Domin ihren Eltern: „Für meine Eltern, die mich ausrüsteten, das Leben in diesem Jahrhundert zu überstehen.“ Mit Dankbarkeit gedenkt sie im Vorwort ihrer Eltern, „die mich für ein leichteres Leben auszurüsten meinten und doch mit allem versehen haben, was mir ermöglichte, die Verfolgung, die immer neue Entwurzelung, mit Mut und Zuversicht zu überstehen.“
Derart ausgerüstet wurde sie zur Apologetin des Vertrauens, gegen Hass und Verfügbarkeit, Mitläufertum und Inhumanität. Weil sie in ihrer Kindheit nie lügen musste, rief sie später in ihren Gedichten, bei Vorträgen, Lesungen und Diskussionen dazu auf, die Dinge und Vorkommnisse „wahrhaftig“, das heißt mit ihrem richtigen Namen zu benennen. In dem Gedichtband „Ich will dich“ schreibt sie über den chinesischen Philosophen Konfuzius:
Nichts weiter sagt er
ist vonnöten
Nennt das Runde rund
und das Eckige eckig.
„Das Hauptwort in meinen Lebensberichten“, so sagt sie, „ist: Vertrauen. Sich erneuerndes Vertrauen. Widerständiges Vertrauen. Dennoch-Vertrauen.“
Als wir uns über ihre Geburtsstadt Köln unterhalten, beginnt Hilde, mir äußerst lebhaft ihre Erinnerungen an ihre, wie sie sie selbst bezeichnet, „mythische“ Stadt Köln zu erzählen.
„Ja, natürlich, Köln spielt für mich eine große Rolle, weil es die Stadt meiner Kindheit ist, weil ich dort eine glückliche Kindheit verlebt habe und auch, weil ich die Stadt verlassen musste.“
Noch immer ergreife sie eine enorme Erregung, wenn sie von Heidelberg nach Köln fahre. Aber besonders stark sei diese Erregung gewesen, als sie bei ihrer Rückkehr aus dem 22-jährigen Exil im Jahre 1954 ihr Elternhaus zum ersten Male wiedersah.
Hilde Domin hat ein einziges Gedicht über Köln geschrieben. Mehr musste es wohl nicht sein, weil sie darin – eine Meisterin in der Verknappung – alles gesagt hat, was ihr wesentlich ist zu diesem Thema:
Köln
Die versunkene Stadt
für mich
allein
versunken.
Ich schwimme
in diesen Straßen.
Andere gehn.
Die alten Häuser
haben neue große Türen
aus Glas.
Die Toten und ich
wir schwimmen
durch die neuen Türen
unserer alten Häuser.
Dieses Gedicht erschien in ihrem dritten, dem 1964 veröffentlichten Gedichtband mit dem Titel „Hier“, also erst zehn Jahre nach ihrer Rückkehr. Man spürt als Leser oder Zuhörer noch die Vereinsamung, das Getrenntsein von den „anderen“, für die die Stadt nicht versunken ist bzw. für die nicht zwei verschiedene Städte simultan existieren, nämlich die gestrige „versunkene“ und die heutige. Die Vergangenheit scheint zum Greifen nah und ist doch nicht mehr erreichbar, symbolisiert durch das Glas in den Türen.
Nicht nur ihr eigenes Schicksal reflektierend, gelingt es Hilde Domin in diesem Gedicht, exemplarisch die Situation derer einzufangen und auszudrücken, die ihre Heimat verlassen mussten, die zurückkehrten oder auch nie mehr zurückkehren konnten, weil sie in der Fremde blieben oder im Krieg und in den Vernichtungslagern umkamen. Und ihnen, den Toten, begegnet sie hier, macht sie lebendig im Erinnern und gibt sie damit der Wirklichkeit zurück.
Ein früheres Gedicht mit dem Titel „Rückkehr“, im zweiten Gedichtband „Rückkehr der Schiffe“ veröffentlicht, thematisiert eine ganz ähnliche Erfahrung:
Meine Füße wunderten sich
daß neben ihnen Füße gingen
die sich nicht wunderten.
…
Am Haus meiner Kindheit blühte
im Februar
der Mandelbaum.
Ich hatte geträumt,
er werde blühen.
Tatsächlich habe bei ihrem ersten Besuch in ihrer Heimatstadt Köln dieser Mandelbaum noch gestanden. Man kann sich ihre Freude darüber vorstellen, einen lieben Gefährten aus Kindertagen wieder zu sehen.
„Heute stehen an dem Platz, wo der Mandelbaum blühte, Mülltonnen“, sagt Hilde Domin mit ein bisschen Wehmut, aber doch auch mit dem ihr eigenen Schuss Realitätssinn, der sie nie sentimental werden lässt.
„Ja, vieles hat sich verändert“, erzählt sie weiter. „Die Riehler Straße hatte zu meiner Zeit große Bäume in der Mitte zwischen den Fahrbahnen und darunter eine wunderbare Fußgängerzone. Natürlich war auch der Gehweg viel breiter vor den Häusern und auf dem Gartentörchen konnten mein Bruder und ich hin und her schwingen.“
Heute gibt es auf der Riehler Straße nur noch einen schmalen Grünstreifen, gerade breit genug, um Halt zu machen beim Überqueren der breiten Straße mit ihrem dreispurig vorüberrauschenden Verkehr. Das Gartentörchen existiert nicht mehr. Aber immerhin noch das Haus ihrer Geburt und Kindheit in der Riehler Straße 23. Sogar die alte Haustür ist noch vorhanden. Auch die Fassade des im historistischen Stil erbauten Hauses hat unbeschadet den Krieg überstanden. Nur die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurden zerbombt. Heute befindet sich an der Ecke Sedanstraße eine Tankstelle.
Vorhanden ist auch noch das Oberlandesgericht, nicht weit entfernt von Hilde Domins Geburtshaus, in dem der Vater als Rechtsanwalt des öfteren bei Prozessen tätig war – er führte vorwiegend Zivilprozesse – und zu denen ihn die kleine Hilde manchmal begleiten durfte.
„Meine Kindheit in Köln“, erinnert sie sich, „wurde zu einem großen Teil von meinem Vater mitgeprägt. Aber damals waren die Väter ja anders als heute. Heute nehmen sie ihre Kinder auf den Arm und benehmen sich so, wie sich damals die Mütter benommen haben. Bei uns ging der Vater mit uns schwimmen vor der Schule. Wunderbar! Im Rhein waren Schwimmanstalten. Der Rhein, sagte man, war damals sauber. Aber natürlich ist das nicht bewiesen“, fügt sie pragmatisch hinzu. „Dann traf man den Vater an der Ecke Hansaring – er hatte seine Kanzlei am Hansaring/Ecke Bismarckstraße – ging zusammen nach Hause, wo man gemeinsam aß und er noch eine halbe Stunde schlafen konnte. Es gab viele aufregende Sachen, die wir zusammen mit dem Vater erlebt haben. Aber für mich war das Aufregendste, als mein Vater mich bei Kriegsausbruch – da waren wir in England – weinend in den Arm nahm und sagte: ›Wir können dir nicht helfen. Ich kann nichts für dich tun!‹