Wie der ästhetische Kitsch, so baut auch der moralische Kitsch vor allem auf Sentimentalität. Sein Feld ist die zur Schau getragene Empfindsamkeit. Dementsprechend geht es ihm nicht um eine rationale Analyse oder gar um das Abwägen verschiedener Perspektiven. Rationalismus und kühle Vernunft sind für ihn schlichter Zynismus. Das kitschige Bewusstsein will nicht verstehen, es will dazugehören und geborgen sein. Geborgen aber fühlt es sich nur in einer überschaubaren und geordneten Welt. Deshalb basiert der moralische Kitsch auf Komplexitätsreduktion. Für ihn gibt es nur Gut und Böse, Hell und Dunkel.
Damit der moralische Kitsch massenkonsumierbar wird, muss er sich jedoch politisch organisieren. Da der demokratische Politbetrieb aber auf Kompromissen beruht, auf der Organisation von Macht und einem berechnenden Zweckrationalismus, also auf etwas, was dem kitschigen Bewusstsein wesensfremd ist, formiert es sich gerne außerhalb staatlicher oder parteipolitischer Institutionen. Zumindest in postindustriellen Wohlstandsdemokratien wird politischer Kitsch weniger vom Staat organisiert und präsentiert, er ist vielmehr eine Kommunikationsform der „Zivilgesellschaft“ geworden, also einer gesellschaftlichen Struktur, deren Existenz und gebetsmühlenartige Beschwörung ihrerseits Produkt des kitschigen Bewusstseins ist. Hier, in der Zivilgesellschaft, also in imaginierter Gemeinschaft der politisch Erleuchteten, der Nichtkorrumpierten und Aufrechten, findet der moralische Kitsch seine ideale Agitationsform. Entsprechend organisiert er sich bevorzugt in Stiftungen, NGOs oder anderen Vereinen und Verbänden. Unbelastet von realpolitischen Erwägungen kann er hier seinem moralischen Maximalismus frönen.
Doch moralischer Kitsch zielt, wie jeder Kitsch, nicht auf Sektierer, sondern auf die Masse. Seine Pointe liegt darin, Moral massentauglich zu machen. Jeder kann hoch moralisch sein, zu jeder Zeit. Man muss einfach nur für den Frieden sein, für Gerechtigkeit, für Umweltschutz oder gegen Nazis. Das kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion. Aus diesem Grund auch sind die Formeln des politischen Kitsches leicht konsumierbar und im Kern belanglos.
Ein Ergebnis ist das Wörterbuch des Polit-Kitsches: Darin versammelt sind Floskeln und Wortbildungen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Wertegemeinschaft“, „Solidarität“ und „Mitmenschlichkeit“, tränenrührige Phrasen von der Sorte „kein Mensch ist illegal“, „kein Blut für Öl“ oder auch „Seenotrettung ist kein Verbrechen“, aber auch das unvermeidliche „Zeichen setzen“ und „Gesicht zeigen“. Diese Plattitüden sind weitestgehend sinnfrei, doch wer sie hinterfragt, diskreditiert sich selbst. So bekommt der kitschige Jargon die diskursive Lufthoheit.
Anders als der ästhetische Kitsch hat der politische Kitsch jedoch einen Appellcharakter. Er fordert zu Handlungen auf, vor allem zu symbolischen. Also lässt man Luftballons in die Luft steigen, Tauben fliegen, hält sich tapfer die Hände, entzündet Kerzen wo immer es geht und legt Stofftiere ab, wenn man sie nicht gerade jubelnd in die Höhe wirft. So erzeugt der politische Kitsch wieder den ästhetischen.
Da der politische Kitsch, ebenso wie der ästhetische und moralische, ein tragendes Element der Massenwohlstandsgesellschaft ist, besteht wenig Hoffnung, ihn aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Wir werden mit ihm leben müssen. Umso wichtiger jedoch ist es, seine historischen Wurzeln zu verstehen, seine psychosozialen Grundlagen und seine kommunikativen Funktionen. Dieser Versuch wird hier unternommen.
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