Am nächsten Tag musste Maria ihre neue Arbeit antreten. Sie war mächtig aufgeregt. Wolfram empfahl ihr, eine schwarze Perücke zu tragen, die er extra dafür gekauft hatte, und auch die getönte Brille, die nur Fensterglas in der Fassung hatte. So konnte sie ihre blonden Haare verbergen und auch die Brille ließ sie anders aussehen. Ebenso sollte sie sich stark schminken. Wolfram meinte, es wäre besser so, denn dadurch werde sie niemand erkennen, wenn man ihr normal auf der Straße begegne. Maria befolgte jeden Rat, den ihr Wolfram gab. Sie vertraute ihm. Auch ihn kannte ja kaum jemand in der Firma persönlich.
Als Maria vor ihre drei Mitarbeiter trat, war sie nicht zu erkennen. Den Rest machte das elegante Kleid, das sie zwei Stunden vorher in Uelzen gekauft hatten. Nun stand sie vor Anja Kraft, Nicole Neumann und Paul Quertreiber. Sie erinnerte sich kaum noch, was Wolfram ihr als Anfangsrede empfohlen hatte. Trotzdem begann sie.
„Ich kann Sie drei zu dieser neuen Arbeit beglückwünschen. Sie sind die kräftige Anja, Doppel-N und der Quertreiber. Nennen Sie mich bitte immer nur Maria. Ich wünsche keine Titel oder Ähnliches. Sie werden größtenteils selbstständig arbeiten. Ich vertraue Ihrer Beurteilung. Nein, nein, nicht der Ihrer Vorgesetzten. Die würde vielleicht nicht so gut ausfallen. Aber dafür sind Sie ja hier, damit auch die Menschen an der Basis gerecht behandelt werden. Überprüfen Sie bitte selbstständig, ob das Eingereichte echt ist oder nur übertriebenes Geltungsbedürfnis. Alle berechtigten Fälle schicken Sie mir bitte per E-Mail zu. Meine E-Mail-Adresse ist hier.“ Damit reichte sie jedem einen Zettel, auf dem die Adresse stand. „Ich werde Sie nicht jeden Tag behelligen. Trotzdem erwarte ich von Ihnen eine vorbildliche Disziplin; besonders in der Einhaltung der Arbeitszeit. Denken Sie immer daran, dass Sie jetzt von der gesamten Belegschaft beobachtet werden. Sie können sich jetzt keine krummen Touren leisten. Es würde mir sofort zugetragen und ich wäre dann gezwungen zu reagieren. Wenn etwas passiert ist, dann teilen Sie mir das per E-Mail mit. Egal, was es ist. Wir werden uns bestimmt immer einig. Aber wenn es mir von anderer Stelle zugetragen wird, dann muss ich vielleicht Maßnahmen ergreifen, die wir vermeiden könnten, wenn es unter uns bliebe. Das wäre vorläufig alles, was ich Ihnen mitteilen wollte. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“
Anja fragte vorsichtig: „Sie sind wirklich die Frau vom großen Chef?“
„Ja, warum?“
„Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt. Irgendwie strenger.“
„Ich danke Ihnen. Sie sind für Ihre Ehrlichkeit bekannt. Aber mal unter uns gesagt, Chefs und ihre Frauen sind auch nur Menschen. Ich glaube, wir werden gut zusammenarbeiten. Sehen Sie mich nicht als Ihre Chefin, sondern mehr als Ihre Aufsicht. Das trifft es vermutlich besser. Wie ich schon sagte, werde ich nicht oft hier sein. Arbeiten Sie trotzdem gewissenhaft und wir werden gut miteinander auskommen.“
Da meldete sich Paul mit der Frage: „Wie können wir Sie erreichen, wenn es mal etwas Eiliges gibt? Ist E-Mail da nicht zu langsam?“
„Es gibt hier nichts Eiliges! Sollte es wider Erwarten doch einmal so sein, dann haben Sie von mir jetzt die Genehmigung, zu dritt zu beraten und am Ende selbst zu entscheiden. Eine Telefonnummer gibt es nicht von mir, wenn Sie das meinen. Ich bin viel unterwegs und ich mag Handys nicht. Haben Sie sonst noch Fragen?“
Die drei schüttelten die Köpfe.
„Dann wünsche ich Ihnen einen guten Start ins neue Arbeitsjahr. Auf Wiedersehen.“
Als Maria gegangen war, sahen sich die drei staunend an und zuckten mit den Schultern.
„Was war denn das?“, fragte Nicole.
Anja meinte: „Hoffentlich bleibt sie so. Sie macht einen netten Eindruck.“
„Na, das muss bei Frauen nicht viel bedeuten. Das kann schon morgen völlig anders sein“, sagte Paul dazu.
„Du musst es ja wissen“, kicherte Anja. Es war bekannt, dass Paul so seine Probleme mit Frauen hatte.
Im Moment hatten sie noch nicht viel zu tun. Deshalb bewerteten sie erst mal ihre neue Chefin. Nicole stellte fest: „Sie kommt bestimmt aus dem Osten. Habt ihr diesen merkwürdigen Akzent bemerkt?“
„Ich glaube, hinter Dresden sprechen sie so. Wie auch immer. Hauptsache, sie lässt uns in Frieden“, fügte Paul hinzu.
„Aber gut sieht sie aus“, sagte Anja.
Damit war das Thema Chefin erst mal abgehakt.
Vier Tage später rief Andrea abends an. Neben ihr stand Olaf. Er wollte unbedingt mit Wolfram sprechen. „Ich wollte mich noch für das Kuvert und das viele Geld bedanken. Warum haben Sie es nicht Andrea gegeben? Sie kann es doch genauso gebrauchen.“
Wolfram antwortete: „Andrea ist jetzt mit Sven verheiratet. Sven verdient recht gut. Für Sie war dieses Kuvert hilfreicher. Wir haben es wirklich gern gegeben. Olaf, ich verdiene hier in Deutschland gut. Für mich sind 740,-NOK nicht wirklich viel Geld. Wenn ich mit meiner Familie in einer Gaststätte essen gehe, bezahle ich etwa das Gleiche. Also haben wir nur einmal auf die Gaststätte verzichtet. Ich bin überzeugt, Ihnen hilft es mehr als uns. Haben Sie schon einmal Ihr Konto überprüft?“
„Nein. Wozu? Sie sagten doch, dass bei Ihnen erst am Monatsende Gehalt gezahlt wird.“
„Ich habe durchsetzen können, dass Sie einen Vorschuss bekommen. Den Rest gibt es dann am Monatsende.“
„Ist das wahr?“
„Warum sollte ich lügen? Vertrauen Sie mir. Mit solchen Dingen treibt man keine Scherze.“
„Vielen, vielen Dank! Auch vielen Dank von meiner Frau. Ich übergebe jetzt wieder an Andrea.“
„Hier ist Andrea. Wie geht es euch? Das junge Ehepaar in den eigenen Räumen. Ach, wenn es nur bei uns schon so weit wäre. Sven hat noch nichts Neues von dem Haus gehört. Drückt uns bitte beide Daumen, dass es klappt.“
„Hallo, Andrea. Hier ist Maria. Das mit dem Haus klappt ganz bestimmt. Und wenn nicht, dann packen wir unser Haus hier ein und schicken es mit der Spedition zu euch. Wir finden hier schon wieder etwas für uns.“
„Schön wäre es, wenn das so einfach ginge. Olaf und Ivonne habt ihr aber eine große Freude gemacht. Er war ganz aus dem Häuschen, als Sven ihm das Kuvert gab.“
„Hört er noch zu?“, fragte Maria.
„Nein. Er ist schon wieder rüber zu seiner Familie gegangen. Stell dir vor, sie haben schon an Kohlen gespart, um mehr Geld für Lebensmittel zu haben. Dass es so schlimm ist, habe ich nicht gewusst.“
Wolfram nahm Maria den Hörer aus der Hand und sagte: „Dann wird er sich noch mehr freuen, wenn er sein Konto ansieht. Unsere Firma hat ihm 4.500,- Kronen überwiesen.“
„Was denn, gleich den vollen Lohn?“, fragte Andrea.
„Nein. Ich hoffe, du bist uns jetzt nicht böse. Er ist von der Firma aufgrund seiner Aktivitäten auf 50 Prozent hochgestuft worden. Das bedeutet, er bekommt am Monatsende die gleiche Summe noch einmal. Ist das jetzt schlimm, weil du diese Hochstufung nicht bekommen hast?“
„Aber nein. Ich mache doch auch noch gar nichts. Olaf ist ständig unterwegs und sucht Baufirmen und Handwerker. Ich glaube, er hat schon einige zusammen.“
Wolfram war beruhigt. „Schön, dass du das so siehst. Ich glaube, seine Familie kann das wirklich gut gebrauchen. Aber sag ihm bitte noch nichts davon, dass er am Monatsende die gleiche Summe bekommt. So hat er eben am Monatsende noch einmal eine Überraschung.“
„Das verspreche ich. Wie geht es euch sonst so? Hier ist wieder alles wie immer. Nur wenn ihr da seid, ist hier wirklich was los. Schade, dass ihr nicht öfter kommen könnt.“
„Andrea? Hier ist wieder Maria. Wie sollen wir denn öfter kommen? Irgendwann müssen wir doch auch mal arbeiten.“
„Ja, ich weiß. Trotzdem ist es immer schön, wenn ihr da seid. Na, dann auf Wiedersehen, bis zum nächsten