Liselotte Welskopf-Henrich
Harka
Die Söhne der Großen Bärin I
Roman
Palisander
eBook-Ausgabe
© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz
Erstmals erschienen 1962 im Altberliner Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Covergestaltung: Anja Elstner unter Verwendung einer Zeichnung von Karl Fischer
Mit einer Illustration von Herbert Prüget
Lektorat: Palisander Verlag
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-957840-00-4 (e-pub)
ISBN 978-3-957840-01-1 (mobipocket)
Die Söhne der Großen Bärin
1. Band: Harka
2. Band: Der Weg in die Verbannung
3. Band: Die Höhle in den schwarzen Bergen
4. Band: Heimkehr zu den Dakota
5 Band: Der junge Häuptling
6. Band: Über den Missouri
Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.
Inhaltsverzeichnis
Das Geheimnis der Höhle
Die Nacht war windstill. Nicht ein einziges Blatt, nicht einer der benadelten Zweige rührte sich. Die Rinde der Stämme war an der gegen Nordosten offenen Seite des Berghanges noch feucht, fast nass; der herangewehte Schnee war unter der ersten Frühlingswärme geschmolzen. Von dem Fluss, der sich um das Massiv der Black Hills wand, zogen Nebel herauf. Sie webten über Moos und Fels, zwischen dem Gesträuch hindurch und um die Bäume und machten das Blaudunkel der Mondnacht, die Schatten, mit denen die Baumkronen das Licht der Gestirne verbargen, noch undurchsichtiger.
Hoch am Hang, bei einer verholzten Wurzel, hockte ein Indianerknabe. Er bewegte sich nicht, so dass das Getier ihn nur durch den Geruch wahrnahm. Ein Wiesel hatte den Weg geändert, weil es den Menschen witterte, aber die Eule schwebte arglos an dem erstorbenen Baum vorbei, mit dessen Schattenriss der Schatten des Knaben verschmolz. Dicht vor dem Jungen, aber ohne ihn zu berühren, fiel ein Schimmer des Mondlichtes bis auf den Waldboden; die ziehenden Nebel, der Boden selbst wurden dadurch auf Fußbreite schwach erhellt. Dieser helle Fleck änderte durch die sich bewegenden Nebel seine Form und schien so für das Auge das einzig Unruhige in der schweigenden und ruhigen Nacht.
Die Augen des Knaben waren auf den Lichtfleck gerichtet. Mancher Junge hätte in der Finsternis und Einsamkeit des Bergwalds in dem Lichtschimmer Trost gesucht. Aber Harka Steinhart Nachtauge, der Dakotajunge, wusste zwischen Bäumen, Felsen und Tieren in der Nacht nichts von Furcht. Er hatte sein Messer dabei und konnte jederzeit einen Baum erklettern, das genügte für seine Sicherheit. Seine Gedanken waren auf etwas ganz anderes gerichtet.
Er erkannte in dem fahlen und unsicheren Schimmer auf dem Waldboden die Spur eines Menschen. Die Spur war frisch. Das war hier, kaum zwei Stunden von dem Zeltdorf oberhalb des Flusses entfernt, an sich nichts Auffallendes. Aber die Spur war sehr groß und auch durch andere Merkmale eigenartig. Harka Nachtauge misstraute der eigenen Wahrnehmung. Ließ er sich vielleicht durch die Bewegung des Lichtflecks, durch die Nebel täuschen? Immer wieder maß er den Umriss des Fußes, der hier auf diesen Waldboden getreten war. Sein Blick für den Charakter einer Spur hatte sich unter der Anleitung des Vaters und der älteren Gespielen schon seit Jahren geschult und geschärft.
Einen so breiten Fuß, einen so schweren Tritt, wie dieser Abdruck hier ihn verriet, hatte kein Mitglied der indianischen Jägergruppe, zu der Nachtauge Steinhart gehörte. Auch wenn der Knabe annahm, dass der Unbekannte, von dem die Spur stammte, mit dem linken Fuß am nadelbestreuten glatten Hang ausgeglitten war und dann mit dem ganzen Gewicht auf den rechten Fuß fallend Halt gesucht hatte – selbst dann war dieser Tritt für einen Indianer zu schwer. Die Konturen und Eindrücke stimmten