Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 26.02.2046
Es ist schwierig, die Wahrheit zu verarbeiten. Es war ein Schock für uns alle. Am schnellsten hat ihn wohl noch Logan überwunden. Er hat denn auch sogleich seinen Austritt aus der Longshot-Simulation erklärt; erfundene astronomische Objekte und Gegebenheiten interessierten ihn nicht die Bohne; er wolle zukünftig als wirklicher Forscher arbeiten, und sei es auch nur als komplexes Programm in einem Quantencomputer.
Mia, Jacob und Paladin führen die Simulation auf freiwilliger Basis fort, ebenso wie ich selbst. Zu unserer Crew stoßen die Wissenschaftler Charles Hoberg und Ruby Edgecomb. Ihre Namen haben sie erst vor ein paar Tagen erhalten, da sie zuvor als reine Software-Intelligenzen im Forschungsstab der ESA tätig waren. Die Vereinten Nationen haben ihnen, wie uns auch, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person zugesprochen. Die beiden werden eine ganz neue Erfahrung machen, nämlich die, einen menschlichen Körper zu besitzen beziehungsweise an die Simulation eines solchen gekoppelt zu sein. Sie werden eine Fülle des sensorischen Inputs erleben, die sie sich nie und nimmer vorstellen können. Ihr Menschsein wird sich in nichts von der Wahrnehmung und dem Selbstgefühl eines physischen Menschen unterscheiden. Dass die Simulation mit dreifacher Geschwindigkeit abläuft, ist subjektiv nicht erfassbar (nur, wenn die Sim auf Echtzeit heruntergefahren werden muss, kann es zu minimalen Verzerrungen kommen, die dem simulierten Menschen aber meist verborgen bleiben; im Gegensatz zu einer KI wie Paladin; doch auf andere Art hätte Nick Durand nicht mit uns sprechen können).
Die Simulation der Longshot-Mission wird in ihrem Fortgang nun anders sein. Es trennen uns keine vierzig Jahre geschichtlicher Entwicklung von der Erde. Einer erfundenen Geschichte zumal, die in manchen Details so nachlässig zusammengefügt war, dass sie das wache Auge von Dr. Mia Fournier nicht täuschen konnte.
Bedeutsamer noch ist aber die Tatsache, dass wir nun wissen, nicht sterben zu können. Verleitet diese Gewissheit die Crew dazu, das ganz Unternehmen auf die leichte Schulter zu nehmen? Werden wir uns als bloße Teilnehmer eines Spiels empfinden, das für niemanden ernsthafte Konsequenzen bereithält? Diese Frage haben wir lange mit den Simulations-Planern besprochen. Am Ende hat sich die Crew damit einverstanden erklärt, Schmerzen und Verletzungen als Folge eigener fehlerhafter Handlungen oder simulationsbedingter Ereignisse zu akzeptieren. Denn je stärker die Lebenswirklichkeit nach derjenigen des biologischen Menschen modelliert wird, umso realistischer wird das Verhalten von KIs unserer Prägung sein. Freilich haben wir auch einen Abbruch-Code vereinbart, denn unerträgliche Schmerzen, so sie sich denn infolge eines Unfalls einstellen, will und soll niemand erleiden. Wir nennen diesen Code das ›Abklopfen‹, in Anlehnung an das Aufgeben im Judo-Sport.
Ich werde also weiterhin meine Aufgabe als Kommandant der DAEDALUS wahrnehmen. Anfänglich erfüllten mich dieselben Widerstände wie Logan. Wozu einen Raumflug durchführen, der nicht wirklich ist? Wozu sich mit all seinen Fähigkeiten für das Gelingen eines Unternehmens einsetzen, dessen Widrigkeiten und Gefahren so irreal wie dieses selbst sind? Aber eben diese Gedanken führten mich schließlich zu der Frage: Was ist real für mich? Meine Biographie ist es nicht; Erinnerungen wurden mir implantiert. Das zweijährige Training, das ich mit Mia, Jacob, Harry und Logan absolvierte, hat niemals stattgefunden. Es hat schon etwas Ironisches, wenn ich daran denke, dass die Virtual-Reality-Übungen in Cayenne nichts anderes als implantierte Erinnerungen sind, während das, was ich für die Wirklichkeit hielt, in Wahrheit nur virtuelle Realität war. Eine virtuelle Realität, die auf einem solch komplexen Programm beruht, dass ein nicht vorhersehbarer Fehler die Welt der in ihr Agierenden in tiefe Verwirrung stürzen kann. Die Simulationsleitung überlegte eine Zeitlang, ob sie das unrealistische Verhalten des Fission-Fragment-Triebwerks einfach bestehen lassen sollte, da die Crew ja bereits eine Lösung für das Problem gefunden hatte. Dann aber kam man zu dem Schluss, dass das Verschwinden des Fehlers nicht seltsamer als sein Auftauchen sein dürfte, und entschied sich für ein Debugging, um die Simulation wie geplant weiterzuführen.
Das einzig Tröstliche an dieser gigantischen Täuschung ist, das Harry niemals gestorben ist, da er niemals gelebt hat (im Gegensatz zu dem Harry der parallelen Simulation, in der es weder Komplikationen beim Aufwachen aus dem Kälteschlaf noch Meteoritenunfälle gab). Real ist für mich einzig das, was ich tatsächlich erlebt habe, selbst wenn die Grundlage dieser Erfahrungen eine fundamentale Täuschung darstellt. Ich habe nichts anderes als diesen Raumflug. Selbst mit dem Wissen um die Unwirklichkeit dieser Mission bin ich doch gewillt sie fortzusetzen, da ihre Komplexität einen derart hohen Grad besitzt, dass die Vorhersagbarkeit der Abläufe unmöglich ist. Die bloße Simulation dieses Abenteuers wird sicherlich eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse sowohl in psychologischer als auch technischer Hinsicht hervorbringen, die dann nützlich für die Vorbereitung eines wirklichen Flugs nach Alpha Centauri sein werden. Dies ist für mich, ebenso wie für Mia und Jacob, Grund genug, das einzige Leben fortzuführen, das wir kennen. Die Mission Longshot IV ist mein Leben – Alpha Centauri ist mein Leben.
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