W A R N U N G! Mitteilung der Justizpressestelle Berlin vom 7. Juni 1940:
Karl Rose (31) wurde als Volksschädling heute früh hingerichtet. Er überfiel unter Ausnutzung der Verdunklung in Hennigsdorf eine Frau und versuchte, sie unter Anwendung brutaler Mittel zu vergewaltigen.
Wenn der Kerl, der hier sein Unwesen treibt, nicht aufhört damit, wird es ihm ebenso ergehen!
Die Siedler der Kolonie Gutland I und II.
Emmi zuckte zusammen, wusste aber wieder so in etwa, wo sie war. Noch zehn Meter geradeaus, dann ein Stückchen rechts, wieder rechts und schließlich nach links bis zur Laube ihrer Schwiegereltern. Weiter. »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!« Hatte ihr älterer Bruder immer gesagt. Der stand jetzt mit dem X VI. Panzerkorps unter General Hoeppner in Frankreich. Nicht dran denken. Kein Was-wäre-wenn.
Sie konnte ihre Taschenlampe nicht die ganze Zeit über eingeschaltet lassen. Seit einem Jahr war Krieg, und Batterien waren schwer zu kriegen. Nur hin und wieder, da, wo die Hecken ganz besonders dicht gewachsen waren, und an den Einmündungen anderer Wege knipste sie das schwache Lämpchen an. Auch, um den Kerl nicht anzulocken.
Es lähmte sie wie das Gnu im Maule des Löwen, als sie sich vorstellte, wie es war, unter ihm zu liegen. Wenn sein Glied ihr wie ein Schwert in den Körper fuhr. Sie musste wieder stehen bleiben.
Da war ein Geräusch. Ein Tier schlich durch Gras und Sträucher. Das Tier. Der Mann. Der Vergewaltiger. Und wie ihr dieses Wort durch den Kopf schoss, fiel ihr, überwach, wie sie war, in diesem Moment auch auf, dass seine letzten beiden Silben das Wort Tiger ergaben. Der Tiger lauerte auf seine Beute.
Ein unterdrückter Schrei, ein Wimmern. »Mutti!« Hatte er auch in dieser Nacht ein Opfer gefunden? Emmi lief los. Der Impuls zu helfen war stärker als die Angst, selber Opfer zu werden. Im Laufen merkte sie, dass alles aus der Laube von Frau Ditter kam. Ihr Mann war im Felde, sie lebte mit ihren beiden kleinen Kindern ganz allein hier draußen. Als Emmi näher kam, stellte sich heraus, dass das ältere der beiden Mädchen nur unter Mückenstichen litt. Emmi klingelte trotzdem und fragte nach, als Frau Ditter schemenhaft im Fenster erschien.
»Alles in Ordnung?«
»Danke, ja.« Frau Ditter war um die zwanzig und hielt ihr Jüngstes im Arm. »Und selber?«
»Bis ich mich hier draußen eingewöhnt habe … Ich bin ja großgeworden in der Skalitzer Straße. Immer die Hochbahn vorm Fenster. Und hier …«
»Wird schon werden.« Frau Ditter hatte eine angenehme Stimme, und auch sonst war sie vom Typ her Lilian Harvey ein wenig ähnlich. Irgendwie hatte Emmi die vage Hoffnung gehabt, Frau Ditter würde sie zu einem kleinen Likör in ihre Laube bitten. Nicht nur, weil es sehr angenehm sein musste, mit ihr zu plaudern, sondern auch, weil es ihr den Rest des Heimwegs erspart hätte. Vielleicht hätte sie sogar auf einem Notbett bei Frau Ditter schlafen können. Aber die rief ihr nur ein freundliches »Na, dann gute Nacht!« über den Zaun und verschloss ihre Fensterflügel wieder.
Emmi fühlte sich furchtbar allein. Am liebsten hätte sie sich hier am Zaun ins Gras gesetzt und auf den Morgen gewartet. Fast sehnte sie sich nach der Nähe der Menschen in ihrem alten Luftschutzkeller. Und fast schien es ihr auch, dass sie vor den Bomben der Engländer weniger Angst gehabt hatte als vor der Gewalt des Mannes, der hier auf Frauen lauerte.
Sie verbot sich, an das Tier zu denken, denn instinktiv war ihr bewusst, dass ihre Ängste wie Radiowellen waren, die ihn erreichen und erregen mussten, wenn er in dieser Nacht nach Beute suchte.
Die letzten zweihundert Meter waren die schlimmsten.
Plötzlich schien es ihr sicher, dass der Mann schon in ihre Laube eingedrungen war und dort hinter dem Vorhang auf sie wartete. Sie hatten ihn als klein und schwarz beschrieben. Kein Tiger, sondern ein Panther, ein schwarzer Panther.
Mädel, reiß dich zusammen! Emmi eilte weiter. Augen zu und durch. Es wird schon nichts passieren. Ich hab die Bomben überlebt, ich werd auch das überleben.
»Albert, bitte, wir ziehen wieder weg von hier!« Sie witterte ihre Parzelle. Es waren die Astern, die in voller Blüte standen. Noch der Verteilerkasten der Bewag, breit und hoch wie ein Fels, dann war es geschafft.
Da war die Männerstimme neben ihr. Ebenso wispernd wie drohend.
»Gehen Sie noch aus mit mir?« Emmi lief los und schrie aus Leibeskräften. Das Tier folgte ihr mit schnellen Sprüngen.
Kapitel 2
Berthold Borowka lief zum Appellplatz. Nur nicht zu spät kommen und den SS-Leuten irgendwie in die Augen springen. Das konnte den sicheren Tod bedeuten. Er kam am Block 9 vorbei, wo weithin sichtbar eine Tafel mit einem wegweisenden Ausspruch Heinrich Himmlers angebracht war.
Es gibt einen Weg zur Freiheit.
Seine Meilensteine heissen:
Gehorsam, Fleiss, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterlande!
Zusätzlich hatte die SS die einzelnen Worte von Gehorsam bis Liebe mit weißer Farbe und riesigen Lettern auf die einzelnen Unterkunftsbaracken malen lassen.
Abendappell. Fast elftausend Häftlinge waren sie jetzt.
Wenn der Zählappell nicht klappte, konnten sie bis zum nächsten Morgen hier stehen. Oder aber umfallen und sterben. Berthold wusste, dass die Häftlingsschreibstube ihr Bestes tat. Diejenigen, die zu Arbeiten bei der SS abkommandiert waren, und die im Krankenbau liegenden Häftlinge waren schon vorab gemeldet worden. Die Blockältesten hatten darauf achtgegeben, dass alle anderen pünktlich angetreten waren.
Alle warteten auf die SS-Blockführer. Es begann zu regnen. Immer heftiger. Unwillkürlich musste Berthold an seine Schwester denken. Emmi hatte es gern gehabt, ohne Schirm und Jacke durch den Regen zu laufen. Ob sie auch noch ins KZ gebracht wurde? Sippenhaft. Vielleicht schaffte sie es an Alberts Seite, draußen durchzuhalten. Das war ein braver Kerl, und als S-Bahn-Fahrer vorn im Führerstand war er nicht so gefährdet wie andere, die dauernd aufpassen mussten, nichts Falsches zu sagen.
Berthold war schon seit fast zwei Jahren in Sachsenhausen, und er wusste, dass der Schrecken hier seine Nuancen hatte. Dass es andere noch schlimmer traf als ihn, war ein Stück Überlebenshilfe. Und fast registrierte er es mit einem wohligen Gefühl, kein Neuzugang zu sein.
Wie damals. Als er um drei Uhr morgens in Oranienburg angekommen war. In einer Grünen Minna wurden sie abgeholt. Fünfzig Gefangene hineingeprügelt. Hier am Tor hatten sie anfangs zwei Stunden in der Hocke zuzubringen gehabt. Sachsengruß hieß das. Hockstellung, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Dazu Ohrfeigen, Kinnhaken, Schläge in den Magen, Fußtritte in den Unterleib. Ihm hatte der SS-Oberführer nur zwei Zähne ausgeschlagen, seinem Kameraden aber so in den Bauch getreten, dass er zehn Minuten später gestorben war. Bei minus fünf Grad hatten sie im Freien stehen müssen. Der SS-Hauptscharführer Herbert Bloh hatte gebrüllt: »Den Kanaken sollen erst mal die Läuse einfrieren!«
Neben Berthold stand sein alter Freund Ehrenfried Rebentisch. Sie kannten sich schon von der Buddelkiste her. Ihre Eltern hatten nebeneinander ihre Laube gehabt. Kolonie »Goldregen« in Britz. Gemeinsam waren sie auch zur Schule gegangen, im »roten Neukölln«. Und hatten sich dort einer kleinen, aber gut geführten sozialistischen Organisation zur Bekämpfung der Nazis angeschlossen, der Gruppe »Neu Beginnen«. Verhaftet worden waren sie, als sie eine Parodie des Horst Wessel-Liedes verbreitet hatten. Statt »Die Fahne hoch …« hatten sie gesungen: »Einst kommt der Tag, da wird sich uns verkünden, / wer Freiheit liebt und Todesfurcht nicht kennt. / Dann werden wir ein rotes Feuerwerk anzünden, / in dem das ganze Dritte Reich verbrennt.« Irgendwer hatte sie denunziert, sie waren vorgeladen worden zur Gestapo. Geheimes