„Dass deine Mutter das Buch geschrieben hat“, vervollständigte er meinen Satz. „Das ist die Geschichte deiner Mutter!“ Seine Stimme zitterte mittlerweile und mit Entsetzen sah ich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Konrad!“ Ich sprang auf und setzte mich auf die Armlehne. Dann schlang ich den Arm um seine Schultern und legte den Kopf an seine Wange. So blieben wir eine kleine Weile.
Dann entzog er sich sanft meiner Umarmung und griff nach seinem Weinglas. Er nahm einen großen Schluck und atmete tief ein und aus.
„Das ist das Buch deiner Mutter!“ Seine Stimme klang nun fest und bestimmt.
„Aber meine Mutter ist tot! Abgestürzt und verschollen in den Anden. Hast du das schon vergessen?“
„Deine Mutter lebt!“
Ich spürte, wie eine heiße Welle meinen Körper erfasste. Mein Herz raste und mir wurde schwarz vor Augen.
„Alex, Süße, wach auf. Komm schon.“
Ich spürte sanfte Schläge auf meinen Wangen und schlug die Augen auf. Ich lag auf dem Boden, Konrad kniete neben mir und hielt meine Hand.
„Geht’s wieder?“, fragte er und schaute mich besorgt an.
Ich nickte schwach.
„Was ist denn passiert?“ Doch ich hatte die Frage kaum ausgesprochen, da wusste ich es wieder.
„Du wirst schon wieder ganz weiß im Gesicht. Bleib liegen. Ich hole dir ein Glas Wasser.“ Konrad stand auf und eilte in die Küche.
Das kalte Wasser tat gut und langsam erholte sich mein Kreislauf. Vorsichtig setzte ich mich auf und lehnte mich an den Sessel. Ich trank noch einen Schluck und tat einen tiefen Atemzug.
„Meine Mutter lebt? Woher willst du das wissen?“
Konrad fuhr sich mit den Händen durch die Haare und brachte sie damit in Unordnung.
„Ich habe sie gesehen.“
„Wie gesehen? Wo gesehen?“ Meine Stimme war zwar noch schwach, aber sie gehorchte mir wieder. Ich stand langsam auf und wankte zum Sofa.
„Als dein Vater damals ohne deine Mutter aus Peru zurückkam, war das ein großer Schock für mich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie tot sein sollte Dann hatte ich zwei Jahre lang beinahe jede Nacht die Träume.“
Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Rotwein. „Es war einfach unheimlich.“
„Was für Träume?“, bohrte ich nach.
„Es waren immer dieselben. Ich war in Peru und sie kam mir entgegen, doch sie erkannte mich nicht. Mit leeren Augen sah sie durch mich hindurch. Diese Träume belasteten mich damals sehr.“
Konrad stand auf und begann, im Zimmer auf und abzulaufen. Mit meinem Blick versuchte ich, ihm zu folgen, doch ich spürte, wie mir dabei schwindelig wurde.
„Konrad, bitte setz dich wieder hin und erzähle weiter.“ Mittlerweile hatte sich mein Zustand wieder stabilisiert. Der Rotwein, den ich in kleinen Schlucken trank, tat langsam seine Wirkung. Die Anspannung ließ nach.
„Ich kaufte mir damals, also ungefähr vier Jahre nach ihrem Verschwinden, ein Flugticket und flog nach Lima. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort wollte. Ich glaube, ich wollte ihr einfach irgendwie nahe sein. Das klingt natürlich verrückt, denn auch wenn sie noch gelebt hätte, hätte sie überall in Peru sein können, aber außer Lima fiel mir einfach nichts ein.“ Er schluckte und versuchte krampfhaft, die neuen Tränen zurückzuhalten.
„Es war Februar, also Sommer in Peru und es war unerträglich heiß. Ich war am Abend zuvor in Lima angekommen und wollte mir die Stadt anschauen. Ich schlenderte durch die Altstadt und trank einen Kaffee auf der Plaza San Martin.“
Wieder stand Konrad auf und stellte sich hinter seinen Sessel. Die Hände lagen verkrampft auf der Lehne.
„Und dann?“
„Ich spürte sie schon den ganzen Morgen. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich spürte ihre Präsenz hier drinnen.“ Er hielt sich die Hand auf den Solarplexus. „Ein ganz tiefes Gefühl“, murmelte er leise.
Ich beugte mich ein wenig vor, um ihn besser verstehen zu können.
Leise sprach er weiter.
„Und dann sah ich sie. Isabella rief ich. Isabella. Doch sie reagierte nicht. Lief an der Seite ihrer Begleiterin einfach weiter. Ich legte hastig den Geldbetrag für den Kaffee auf den Tisch und rannte ihr hinterher. Eine Straße weiter hatte ich sie eingeholt. Ich überholte sie und blieb vor ihr stehen. Isabella, rief ich wieder. Erkennst du mich denn nicht? Deinen alten Freund Konrad? Und wie in meinem Traum starrte sie mich nur an. Nicht erkennend und nicht verstehend. Ich wollte nach ihrer Hand greifen, doch ihre Begleiterin schob mich weg und gestikulierte drohend. Die ersten Passanten blieben stehen, um die Frauen gegen mich zu verteidigen.
Dann gingen sie weiter, bogen in eine andere Straße ein und waren kurz darauf verschwunden.
Wie in meinem Traum. Wie in meinem Traum.“
Erschöpft hielt er inne. Seine Anspannung verschwand und er ließ sich in den Sessel fallen. Mit einem Mal ein müder, alter Mann.
„Aber wieso? Ich verstehe es nicht! Wie kann sie am Leben sein? Wenn sie leben würde, dann wäre sie doch sicher hierher, zu mir, zurückgekommen. Ich verstehe es nicht. Vielleicht hast du dich ja getäuscht. Genau. Du hast sie verwechselt!“
Das war die Lösung. Eine Frau, die ihr ähnlich sah und jetzt eine Autorin, die Lebensumstände beschrieb, die denen meiner Mutter ähnelten.
Zufälle, nichts als dumme Zufälle! Das Leben konnte manchmal grausam sein und Hoffnungen erwecken, die sich nicht erfüllen konnten.
Ich wartete auf die Erleichterung, die mich nun erfassen würde, aber sie stellte sich nicht ein.
„Nein Alex, ich habe mich nicht getäuscht. Sie war es hundertprozentig. Ich hätte sie überall auf der Welt wiedererkannt!“
„Du hast sie geliebt!?“
Konrad nickte. „Ich habe sie schon immer geliebt und ich liebe sie noch“, flüsterte er und blickte über mich hinweg. Für einen Moment verlor er sich.
„Aber, was ist denn damals geschehen?“, fragte ich ihn und holte ihn in unsere Gemeinsamkeit zurück.
„Ich weiß es nicht. Aber da sie den Unfall überlebt hat, konnte natürlich keine Leiche gefunden werden.“
„Aber warum hat sie dich dann nicht erkannt? Oder wollte sie dich nicht erkennen?“
„Alex, ich weiß es nicht. Ich habe mich das die ganzen Jahre hindurch gefragt. Ich habe bis heute keine Antwort darauf gefunden.“ Er schüttelte resigniert den Kopf.
„Hast du es Vater erzählt?“
Sein Nein peitschte wie ein Schuss durch den Raum. Erstaunt schaute ich ihn an. Was ist los, fragte ich mich.
„Konrad?“
„Nein, ich wollte ihn nicht damit belasten, ihm vielleicht Hoffnungen machen, die sich nicht erfüllen.“ Seine Stimme war wieder ruhig.
„Was soll ich machen?“ Mir war nicht klar, was er jetzt von mir erwartete.
„Lies das Buch zu Ende. Am Montag sprechen wir darüber. Und versprich mir, dass du mit niemandem darüber redest. Versprochen?“
„Ja, versprochen“, antwortete ich, ein wenig erstaunt über die Dringlichkeit seiner Bitte.
Konrad erhob sich mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
„Ich muss jetzt heim. Ich bin sehr müde.“
Ich nickte. Man sah ihm seine Erschöpfung und Erschütterung an.
Ich