Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz-Joachim Simon
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783955521844
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worden war. Es waren nicht viele, die mit der SA marschierten, als der Gauleiter von Berlin, ein koboldhafter Mensch mit einem Hinkefuß, seine Kohorten nach Neuruppin rief, um mit ihnen durch die Stadt zu marschieren und »Deutschland, erwache!« zu brüllen, allein zu dem Zweck, hier bei den kasernierten Soldaten für die Idee der nationalen Erweckung zu werben. Das Personal der Kanzlei stand am offenen Fenster und jubelte unter Stöcklers Anweisung den braunen Kohorten zu.

      Als die gerade am Denkmal König Wilhelms vorbeimarschierten, fiel ein Schuss. In Berlin war dies nichts Besonderes, hier in der Behaglichkeit der kleinen Provinzstadt hingegen eine unerhörte Begebenheit. In Neuruppin hatten die Kommunisten keine große Anhängerschaft, aber einige gab es doch, und aus deren Reihen kam der Schuss, der zwar nichts anrichtete, jedoch die SA auseinanderspritzen ließ. Sofort wurde unter den Zuschauern am Straßenrand der Schuldige gesucht. Sebastian sah, wie sie einen jungen Mann mit Ballonmütze verfolgten, sah diesen auf ihr Haus zulaufen, die grölenden SA-Leute im Gefolge. Sein Brötchengeber grölte blutgeil mit und feuerte die SA an. Sebastian aber schlich sich aus dem Zimmer und lief hinunter in den Flur, wo ihm auch schon mit gehetzten Augen der junge Mann mit der Ballonmütze entgegenkam. Erschrocken sah der ihn an.

      »Keine Angst, komm!«, flüsterte Sebastian. Während unten die SA schon polterte, lief er dem Kommunisten voran und führte ihn in die Kanzlei. Der Flur war leer. Noch standen alle in Stöcklers Büro und sahen auf die Straße, wo eine wilde Hatz auf die vermeintlichen Kommunisten in Gang war. Sebastian stieß den Rotfront-Mann in den Aktenraum, der außer Regalen nur noch eine Leiter enthielt und den Staub von einigen Generationen. Er hoffte, dass man hier nicht so schnell auf Aktensuche ging. »Warte hier! Und keinen Mucks, bis sie wieder …« Er legte den Finger auf den Mund, und der junge Mann nickte dankbar. Sebastian ging in Stöcklers Büro zurück. Man schien seine Abwesenheit nicht bemerkt zu haben.

      Nun polterte es an der Tür zur Kanzlei. Stöckler sah sich stirnrunzelnd um und ging zum Flur. Drei SA-Männer drängten herein.

      »Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Stöckler mit strenger Miene.

      »Hier ist der rote Bastard rein!«, stammelte der Anführer, und sein Blick flog über die Anwesenden.

      »In unserer Kanzlei befindet sich kein Roter. Niemals!«, erwiderte Stöckler mit hochrotem Kopf.

      »Aber wo soll er denn sonst …«

      »Was weiß ich! Bei uns ist er jedenfalls nicht. Haben Sie nicht gesehen, dass vor unserem Fenster die Hakenkreuzfahne hängt?«

      »Entschuldigung, dann ist er wohl auf dem Dachboden«, sagte der SA-Mann, nickte seinen Schlägerkumpanen zu, und sie stolperten hinaus.

      »Sie müssen noch Zucht und Ordnung lernen. Na, wo gehobelt wird, da fallen halt Späne an«, sagte Stöckler.

      Sie hörten draußen die SA-Leute nach oben toben und bald wieder zurückkommen. Sie verharrten noch einmal vor der Kanzleitür, dann erfolgte ein Ruf, und sie polterten die Treppe hinunter. Mit einem Rechtsanwalt und Notar, der sich mit der Hakenkreuzfahne zu ihnen bekannte, wollten sie keinen Ärger bekommen.

      »Dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen«, sagte Stöckler und klatschte in die Hände.

      Der Anwaltsgehilfe Brösel warf Sebastian einen gehässigen Blick zu und lief zum Abstellraum. Sebastians Hände wurden feucht. Doch schon stürzte der Kommunist wie ein gehetztes Wild heraus, und ehe Stöckler und Brösel den Mund zubekamen, war er durch den Flur und wieder aus der Kanzlei heraus.

      »Wie zum Teufel kommt der Kerl in die Kanzlei?«, brüllte Stöckler.

      »Da muss ihm wohl jemand geholfen haben«, sagte Brösel und blickte Sebastian feindlich an.

      »Lorenz, hast du den Roten hereingelassen?«, donnerte Stöckler.

      »Ich habe bei dem Jungen noch nie ein gutes Gefühl gehabt«, setzte Brösel hinzu.

      »Junge, gestehe, du hast den Roten hereingelassen!«, brüllte Stöckler.

      »Ja, das habe ich!«, gab Sebastian zu. »Irgendjemand musste ihm doch helfen, die Kerle hätten ihn sonst umgebracht. Ich wollte nicht wegen unterlassener Hilfeleistung Ärger bekommen. Der Mob ist doch außer Rand und Band.«

      »Hört euch das an, jetzt kommt der uns noch mit dem Strafgesetzbuch!«, entsetzte sich Brösel.

      »Ich habe nur nach Recht und Gesetz … Ich denke, wir sind doch Vertreter von Recht und Gesetz!«, sagte Sebastian trotzig und mit bleichem Gesicht.

      »Mob? Wie redest du von den nationalen Kräften! Du hast also tatsächlich …« Brösel schüttelte den Kopf, nahm das Taschentuch und wischte sich die Stirn. »Er bringt unsere Kanzlei in Verruf!«, hetzte er.

      »Junge, du packst jetzt deine Sachen und verlässt sofort unsere Kanzlei. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Du bist fristlos entlassen«, sagte Stöckler bestimmt.

      »Ein Kommunistenfreund in unserer Kanzlei!«, kreischte Brösel.

      »Ich bin kein Kommunist, ich wollte mir nur nicht unterlassene Hilfeleistung vorwerfen lassen …«

      »Verschwinde!«, schnauzte Stöckler.

      Sebastian zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Schreibtisch. Er packte die Brotdose in die Aktentasche, zog die Schublade auf, nahm Der Tod in Venedig heraus, was ihm ein wütendes Schnauben von Stöckler eintrug, und ging hinaus.

      »Lass dich nie wieder hier sehen!«, rief ihm Brösel triumphierend hinterher.

      Sebastian war nicht traurig, weder entsetzt noch deprimiert. Er nahm es hin, wie es gekommen war. Ihm war es nur recht. Das Kapitel Anwaltsgehilfe hatte er hinter sich. Als er auf die Straße trat, waren die Kolonnen bereits zum Bahnhof weitermarschiert. Die Zuschauermenge begann sich zu verlaufen. Als Sebastian an der Fontane-Apotheke vorbeikam, löste sich aus dem Eingang ein junger Mann. Winkend kam er auf ihn zu.

      »Vielen Dank«, sagte der Mann mit der Ballonmütze. »Ich weiß nicht, was die mit mir angestellt hätten, wenn du mir nicht zu Hilfe gekommen wärst … Hast du deswegen Ärger bekommen?«

      »Ja, mein Vorgesetzter hat mich rausgeschmissen.«

      »Verflucht!«, sagte der Kommunist, ein hochgewachsener junger Mann mit einem bleichen, ausgemergelten Gesicht und groben Händen.

      »Das ist nicht so schlimm, es war ohnehin die Hölle.«

      »Jedenfalls hast du bei mir etwas gut. Ich heiße Kowalski, und wenn du mal in die Bredouille kommst, dann …«

      »Ich bin schon in der Bredouille, aber dabei wirst du mir nicht helfen können.«

      »Das stimmt«, gab Kowalski stirnrunzelnd zu. »Ich habe ja selbst keine Arbeit.«

      »Das kann ich mir denken. Ihr hättet nicht schießen sollen.«

      »Glaub nicht, dass es einer von uns war! Keiner von uns hatte eine Waffe. Wir haben nur ›Rot Front!‹ gebrüllt und ›Nieder mit der Reaktion!‹. Ich weiß auch nicht, wer da die Nerven verloren hat.« Kowalski schlug Sebastian auf die Schulter, hob die geballte Faust und lief die Straße zum Paradeplatz hoch.

      Sebastian kam am Bahnhof vorbei, wo immer noch SA-Männer auf den Zug nach Berlin warteten. Sie schwadronierten vom kommenden Sieg und dass sie den Neuruppinern gezeigt hätten, wer bald in Deutschland die Macht übernehmen würde. Ein breitschultriger SAMann kam mit lauerndem Blick zu Sebastian und hauchte ihm seinen fuseligen Atem ins Gesicht.

      »Bist wohl auch einer von der Reaktion, so wie du aussiehst! Nun mach mal den deutschen Gruß und ruf ›Heil Hitler‹!«

      »Guten Tag, mein Herr«, antwortete Sebastian und wollte sich abwenden, aber der SA-Mann hielt ihn am Arm fest.

      »Los, mach schon, ich will ›Heil Hitler‹ hören!«

      »Ich habe Ihnen doch höflich einen guten Tag gewünscht. Lassen Sie mich in Ruhe!«

      »Hört euch das an!«, grölte der SA-Mann seinen Leuten zu.

      »Mach