Lotte Bromberg
F a l l s u c h t
Der andere Berlinkrimi
Memel Verlag
Dies ist ein Roman. Jegliche Übereinstimmung oder auch nur Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Begebenheiten ist zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.
Deutsche Erstausgabe
©Memel Verlag Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung anettemartin.de
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ISBN 978-3-945611-00-5
ISBN 978-3-945611-01-2 (E-Book)
Für Dich
wen sonst
I
Es gibt nicht viele Einsatzorte, die Berliner Kripobeamte überraschen können. Die meisten Menschen halten ihren Ausraster für einzigartig, dabei ist es immer die gleiche Leier. So oder so alles schon mal dagewesen. Ein Krankenhaus allerdings, das morgens um sieben im klirrend kalten Februar wegen einer amoklaufenden Ärztin die Kripo ruft, Verdacht auf Mordversuch, das ist mal etwas Neues. Arbeitstage können schlechter beginnen als mit einer Göttin in Weiß auf Schußfahrt.
Für die Hauptkommissare Jakob Hagedorn und Oskar Blum war das ohnehin ein guter Morgen, die Februarsonne steckte vorsichtig ihre Nasenspitze in den eisigen Tag, als sie auf die Straße traten. Endlich mal wieder eine gemeinsame Schicht, wie in alten Zeiten.
Als Jakob damals angefangen hatte bei der Kripo, war Oskar sein erster zugeteilter Partner gewesen. In der zweiten Nachtschicht hatten sie wegen der Anzeige einer am Schlaf gehinderten Nachbarin vor einer Wohnung gestanden, um dem Verdacht auf häusliche Gewalt nachzugehen. Nach zweimaligem erfolglosem Klingeln hatte Jakob den Wohnungsinhaber zu überreden versucht, die Tür zu öffnen, Oskar einen Lachkrampf bekommen und ihm so seine Pranke auf die Schulter gedeppert, daß der fast in die Knie gegangen war.
Noch Tränen in den Augen und nach Luft schnappend hatte Oskar Blum die Tür eingetreten, war zielstrebig an den Müllbergen im Flur vorbeigestiegen, hatte den lärmenden Fernseher abgeschaltet und ergebnislos versucht, den geübt volltrunkenen Bewohner der charmanten Bleibe auch nur zum Öffnen der Augen zu bewegen. Er hatte den Notarzt gerufen, der Zentrale gemeldet, daß sich die befürchtete Gewalt auf das Fernsehprogramm beschränkte, das Fenster geöffnet und zu Jakob gesagt, daß seine Sätze eindeutig kürzer werden müßten.
Sie waren gleich alt, aber Oskar wollte nie etwas anderes als Kriminaler werden. Nach Abitur und Ausbildung war er in Grün auf der Straße gelandet, mit fünfundzwanzig bei der Kripo und als sie sich kennenlernten, war er so erfahren gewesen, daß Jakob sich vorgekommen war wie ein Waschlappen, wenn auch ein studierter.
Schon immer liebte Jakob Bücher und Geschichten, hatte sich in Universitätsbibliotheken eingebuddelt und erst nach dem in einem Innenhof der Rostlaube abgepflückten Magister gefragt, was jetzt. Sein Professor wollte ihn für eine Promotion zu gewinnen, er hatte Doktorandencolloquien besucht und war Gesprächen über die immanente dialektische Struktur des Spätwerks französischer Autoren gefolgt.
Eines Morgens war er erwacht, seine Mutter hatte ihn großäugig und hohlwangig von der Fensterbank angelächelt, war hinter der aufgehenden Sonne verschwunden und er hatte gewußt, er würde sich um die Geschichten der Toten kümmern müssen. Das war so sicher gewesen wie das strapazierte Amen in der Kirche.
Magister Jakob Hagedorn bewarb sich bei der Kripo. Verblüffenderweise war man dort entzückt über seine akademische Vorbildung und bildete ihn bereitwillig im Berliner Straßenkampf aus.
Den Rest machte Oskar. Er hatte Wort gehalten und Jakobs Sätze verschlankt, indem er ihn sofort unterbrach, wenn es kompliziert wurde oder zu lange dauerte. Ausreden lassen hatte er ihn erstmals, als ein Rechtsanwalt nach zu viel genossener Sonne auf dem äußersten Rand der Dachpappe eines Siebzigerjahrebaus am Kudamm seinen Kompagnon im Arm hielt und ihn den Gesetzen der Schwerkraft überantworten wollte. Das war das erste Ding für Jakobs Birne gewesen, wie Oskar sagte. Akademiker eben. Wobei für Oskar Blum alle Akademiker waren, die einen Umweg machten zwischen dem Anfang und dem Ende eines Satzes.
Der Rechtsanwalt hatte nach einer Stunde gepflegten Textaustausches die Finger vom Kompagnon genommen, ohne ihn ins Erdgeschoß schweben zu lassen. Gut, danach war er selbst gesprungen. Man kann nicht alles haben. Aber halbe-halbe ist gut für den Anfang.
Ihre Arbeitsteilung war fortan geregelt, an den Feinheiten mußte Jakob noch arbeiten. Oskar war, wie er war, keine Verhandlungsmasse. Entweder man mochte ihn oder nicht. Ohnehin mochten ihn die meisten. Jakob dagegen mußte sich alles erarbeiten. Er war großgewachsener Akademiker, Brillenträger, Freund gepflegt lässiger Leinenhemden, kurzer Mäntel und ein zurückhaltender Mensch. Seine Finger waren zu lang, seine Hände zu schön, seine Augen zu dunkel, sein Blick zu tief.
Und er träumte.
Stieg durch die Stadt, erkannte Leute nicht, vergaß zu grüßen.
Und er las Bücher.
Oskar hatte viel zu tun, hinter ihm aufzuräumen. Aber nach einem Jahr war klar gewesen, daß Jakob Hagedorn schlicht ein guter Kripomann war. Er löste die Fälle ohne hinzusehen. Setzte sich zum Verhör, sah die Täter an und sie begannen zu plappern, als hätten sie nur darauf gewartet, in seine ruhende Visage hinein ihr Leben zu versenken. Er erkannte Verbindungen, an die niemand dachte, sah Details, die es gar nicht geben konnte, stellte Fragen, auf die niemand eine Antwort wußte, und er sah Geister.
Das war sein Durchbruch.
Er fand ein Mordopfer, das niemand vermißte. Und den Mörder dazu. Sie saßen mit einem unrasierten, fünfzigjährigen Vierschröter im Verhör, der seine Nachbarin erwürgt hatte, was unstrittig war, trotzdem schwieg der Mann wie zugeklebt. Sie hatten es von allen Seiten versucht, aber seine Deckung war so geschlossen wie die Beweislage dürftig. Da war Oskar Kaffee holen gegangen.
Als er zurückkam, hockte der Mann zusammengekauert mit aufgerissenen Augen in der Ecke, gestand alles und wollte raus, weg, so schnell wie möglich. Jakob Hagedorn hatte auf dem Stuhl neben ihm ein kleines Mädchen gesehen, fünf, sechs Jahre alt. In einem vorgestrigen Blümchenkleid saß sie, einen Zopf im Mund, auf ihren Händen, baumelte mit den in Strümpfen und Lackschuhen steckenden Beinen und sah abwechselnd Jakob und den Nachbarinnenwürger an.
Da hatte der Kommissar den Mann gefragt, ob er das Mädchen kennt, schließlich will man wissen, mit wem man es zu tun hat. Hatte ihr Kleid beschrieben und die dünnen braunen Zöpfe. Sie war die Schwester des Vierschröters, tragisch ertrunken mit fünf Jahren in einem Teich. Tatsächlich hatte ihr einziger Bruder sie ertränkt. Elf war er und wollte alle elterliche Liebe, nicht die kleinere Hälfte. Gestand das alles, nachdem er aufgesprungen war, bloß weg von dem Stuhl, der für ihn leer blieb, bloß weg von Jakob, dem Geisterseher. Gestand das Ende der Nachbarin gleich mit, das Maul hatte sie endlich halten sollen, die Giftnatter.
Danach schwiegen alle.
Oskar Blum war stolz auf seinen Freund. Der galt fortan als irre und ein bißchen gefährlich. Gut so, fand Oskar, nichts mehr aufzuräumen. Alle machten eine Gasse für ihren Paradiesvogel. Und auf einmal hatte er gegrüßt, der lange Dunkle, die Kollegen angesehen wie vorher nur seine Verdächtigen. Fragte nach Kindern, neuen Autos, Gesundheit und Urlaubsreisen. Vergaß nie ein Fitzelchen, keinen Geburtstag, Ehrentage überhaupt. Er legte über die Flure der Keithstraße ein freundliches Zwitschern der Anerkennung für jeden gottverdammten Blumenpott. Alle waren wie auf Droge. Na ja, fast alle.
Oskar wurde immer stolzer. Sein wunderbarer Geisterfreund brachte die Luft zum Brummen. Er las immer noch Bücher, seine Finger waren immer noch zu lang, seine Hände zu schön, sein Blick dunkel und unverschämt tief.