Wenn dann das Land in der Regenzeit zu feucht wurde oder der Fluss die Ufer überschwemmte, suchten die frühen Bewohner dieser Gegend sich andere, trockenere Wohngelegenheiten. Die alten Lagerplätze wurden mit allem, was auf ihnen wuchs oder herumlag, vom Wasser bedeckt, das im Sommer wieder austrocknete und allmählich die Steinmasse des Travertins zurückließ, aus der sich unsere Ehringsdorfer Steinbrüche zum größten Teil zusammensetzen.«
»Herr Fischer«, fragte Rudi, dessen schmales, braunes Knabengesicht mit den klugen, dunklen Augen sich bei der Erzählung des alten Mannes in aufmerksamem Eifer zu röten begann, »was heißt denn eigentlich Travertin?«
»Travertin ist die Bezeichnung für unseren Kalktuffstein, der schon den alten Römern als begehrter Baustoff bekannt war. Sie nannten ihn lapis tiburtinus, den Stein vom Tiber, in dessen Quellgebiet, den Abruzzen, er schon zur Zeit der römischen Kaiser gefunden und gebrochen wurde, die ihn für die Prachtbauten der Hauptstadt ihres großen Weltreiches mit Vorliebe benutzen.
Die Entstehung des Travertin in unserer Gegend bei Ehringsdorf müsst ihr euch so vorstellen: Von den Hängen des Ilmtales flossen Quellen als schmale Rinnsale mit oft wechselndem Lauf in die flache Landschaft der Umgebung hinab und bildeten darin an verschiedenen Stellen kleine Teiche und Tümpel, in denen Algen, Moose und andere Wasserpflanzen wuchsen und deren Ränder mit Erlen, Weiden und Schilf bestanden waren. In der feuchten Jahreszeit wurden große Teile der Landschaft vom Wasser überrieselt, das im Sommer wieder austrocknete, während sich an anderen Stellen neue Teiche bildeten. Von dem im Wasser enthaltenen Kalk wurden dadurch die Pflanzen allmählich mit einer feinen Kruste überzogen, die auch an den Blättern saß, mit denen sich im Herbst der Boden bedeckte. So entstand Schicht auf Schicht ein im Lauf der langen Zeit immer dichter werdendes Kalklager, das schließlich zu festen Steinbänken zusammenwuchs, in welche die von den Urmenschen fortgeworfenen Tierknochen und andere Reste des damaligen Lebens auf der Erde allmählich eingebettet wurden.
Wenn die Quellen auf den Höhen durch mangelnden Zufluss im Sommer versiegten, trockneten die Teiche aus und der auf ihrem Grunde entstandene Schlamm verhärtete sich. Die warme Jahreszeit lockte den Urmenschen an die alten Jagd- und Lagerplätze zurück, das Leben begann von neuem und hinterließ seine Spuren mit ausgebrannten Lagerfeuern, Überresten von erlegten Tieren, denen unsere ältesten Vorfahren bei ihren Mahlzeiten die Knochen zerschlugen, um das Mark daraus zu saugen, mit Feuersteinen, die sie zu allerlei Gerätschaften verarbeiteten, und mit hölzernen Wühlstöcken, die sie zum Ausgraben von Wurzeln verwendeten. Alles das wurde, wenn der Mensch sich vor den Naturgewalten wieder einmal in Sicherheit bringen und seine Wohnung verlassen musste, an seinem Platz zurückgelassen und von Schlamm und Kalk überzogen. Diese Entwicklung wurde durch die Einwirkungen der letzten Eiszeit unterbrochen. Klimaschwankungen brachten die Quellen des Ilmtals wieder zum Fließen, und der ganze Vorgang wiederholte sich mit der Bildung der zweiten Travertinschicht, bis das Eis aus dem Norden noch einmal vorrückte und neue Erdschichten bildete.«
Der Weg in die Tiefen der Erde
Großvater Fischer stopfte sich aus einem abgeschabten ledernen Tabaksbeutel eine neue Pfeife, tat einen langen, genießerischen Zug und setzte dann seine Erzählung fort: »Ich stand nun also eines schönen Tages mit meinen Brüdern und ein paar Hilfsarbeitern unternehmungslustig da, um meine Entdeckungsreise in die Tiefen der Erde anzutreten. Ich kannte ja unsere Steinbrüche schon gut genug, um zu wissen, dass ich im Laufe der Zeit da unten manchen interessanten Fund würde machen können, und eine leise Vorahnung sagte mir sogar, dass ich vielleicht auch so glücklich sein würde, dem Urmenschen, der einmal in unserer Ehringsdorfer Landschaft gelebt hatte, auf die Spur zu kommen. Das wollte ich meiner Lebensarbeit als einfacher Steinbrecher zum großen, erstrebenswerten Ziel setzen. Ob ich es wohl erreichen würde?
Damals — es war vor mehr als fünfzig Jahren — gab es erst wenige von unseren modernen technischen Hilfsmitteln für die Erdarbeiten. Wir mussten also beim ersten Ausschachten zunächst einmal mit Spitzhacken und Schaufeln den Mutterboden abtragen und ihn mit Handkarren in die nächstgelegenen, schon ausgeräumten und nicht mehr betriebenen Steinbrüche fortschaffen. Ebenso ging es mit dem darunterliegenden Abraum von wertlosem Gestein. Das war eine mühselige Arbeit und kostete manchen Tropfen Schweiß, denn wir waren dabei ja nur auf unsere Hände und Arme angewiesen. Heute kommt man schneller damit vorwärts. Die großen Greifer und Bagger, wie ihr sie an unseren Baustellen beim Ausschachten sehen könnt, leisten natürlich unvergleichlich viel mehr. Aber die gab es damals noch nicht, und wir hätten im Anfang unserer Arbeit auch gar nicht Geld genug gehabt, um eine so teure Hilfskraft anschaffen zu können.
Die Schwierigkeiten wurden beim Fortschreiten der Abbauarbeiten noch dadurch erhöht, dass im Gegensatz zu anderen Steinbrüchen, die meistens nach einer Seite offen sind und dadurch leichtere Transportmöglichkeiten für die Beförderung von Steinen und Abraum bieten, unser Unternehmen schachtartig von der Erdoberfläche in die Tiefe getrieben werden musste.
Nachdem wir uns etwa sechs Meter tief in die Erde hineingearbeitet hatten, wobei ich eine ganze Menge von allerlei gewöhnlichen Schneckenhäusern gefunden hatte, trafen wir unter einer neuen Erdschicht auf eine Ablagerung von bläulich schwarzem Tuffsand und darunter auf die erste Bank von gelbgrauem Stein, in die an verschiedenen Stellen eine Erdschicht von etwa 25 cm Stärke eingelagert war. Sie sah ganz schwarz aus und wurde an der Sonne steinhart. Nun fand ich auch schon Tierzähne, Rehgehörne und Knochenreste.
Wir hatten noch nicht allzu lange an der Anlage des Steinbruchs gearbeitet, da erhielten wir den ersten wissenschaftlichen Besuch. Die Erforscher der Urgeschichte wussten längst die Weimarer Umgebung zwischen Ehringsdorf und Taubach als eine reiche Fundgrube für ihre Sammlungen zu schätzen, denn ich war ja nicht der Erste, der in diesem historisch so wichtigen Boden auf Entdeckungen ausging. Die Herren Gelehrten hatten seit langer Zeit ein wachsames Auge auf unsere Heimatgegend, und wenn hier ein neuer Steinbruch aufgemacht wurde, dann waren sie schnell da, angelockt wie die Wespen vom Honigtopf, um sich einen möglichst großen Teil der zu erwartenden Funde für ihre Forschungszwecke zu sichern.
Da erschien also eines schönen Tages ein dicker, gemütlicher Herr an unserer Arbeitsstelle und begrüßte mich freundlich:
›Guten Morgen — ich möchte gern Herrn Fischer sprechen.‹
›Der bin ich selbst‹, sagte ich, ›was wünschen Sie?‹
›Ich bin‹, sagte der Dicke, ›der Doktor Wild von der Landesanstalt für Vorgeschichte in Halle und habe gehört, das Sie hier einen neuen Steinbruch in Betrieb genommen haben. Da wollte ich ihn mir gern mal ein bisschen ansehen.‹
›Ja, Herr Doktor‹, entgegnete ich, ›das ist ganz schön und gut und Sie sollen mir herzlich willkommen sein. Aber hier gibt es einstweilen noch nicht viel zu sehen. Wir sind bis jetzt nicht sehr tief gekommen und haben zunächst auch nichts Neues gefunden, was Sie interessieren wird und was zu zeigen sich lohnt.‹
›Macht nichts, Herr Fischer — macht gar nichts‹, antwortete mir mein hartnäckiger Besucher. ›Was nicht ist, kann noch werden. Sie wissen ja, die Forschung muss viel Kleinarbeit leisten. Dabei ist jede, auch die kleinste und dem Laien unbedeutend erscheinende Einzelheit von Wert und Wichtigkeit.‹
Der gute Mann war nicht davon abzubringen, sich einmal genau bei uns umsehen zu wollen. Was konnte ich dagegen machen? Wir mussten ja die gelehrten Herren bei ihren Untersuchungen unterstützen, soweit wir konnten. Mein gemütlicher Gast begann also, in aller Seelenruhe, zwischen Erde und Steinen mit einer Behendigkeit herumzuklettern, die man seiner Körperfülle gar nicht zugetraut hätte. Er sah sich dabei überall aufmerksam um, und ich wurde im Stillen schon ein wenig ärgerlich und ungeduldig, denn ich hatte den Tag gerade eine Menge zu tun und war nicht ganz einverstanden damit, dass mir der neugierige Bücherwurm gerade in diesem Augenblick in die Quere kam. Aber es half nichts