„Leben besteht aus bestimmten objektiven Manifestationen von Vitalität. Es gibt eine bestimmte Lebenskraft, die sich in den vielen vitalen Prozesse ausdrückt. Wird diese Lebenskraft in ihrem Prozess der Verteilung und Manifestation nicht behindert und kooperieren die vitalen Prozesse und die organischen Aktivitäten perfekt, ist das Physische vollständig angepasst.“
Kein ‚Gesund machen‘, kein ‚Heilen‘, keine Angriffsfläche für übersteigerte Behandler-Egos oder Helfer-Syndrome. Der halbgöttische und übermächtige Behandler bekommt seinen angestammten Platz wieder: als Erfüllungsgehilfe der Natur. Dort, und nur dort, kann er sein ganzes Potenzial zum Wohl der Menschheit entfalten. Ist das nicht ein mächtiger und im Grunde sehr befreiender Gedanke? Lesen Sie jede Zeile von Littlejohn in der Bewusstheit, dass er in dieser Gedankenwelt Osteopathie gedacht, gelebt und verteidigt hat. Ich bin mir sicher, Sie werden danach besser verstehen, warum dieses in einem Archiv verstaubende Manuskript es mehr als wert ist, in die gegenwärtige Osteopathie zu wirken.
Der vorliegende Titel wurde inzwischen neu gesetzt. Dabei wurde die im Original nur rudimentär vorhandene und erst in der Übersetzung vervollständigte Nummerierung der zahllosen Aufzählungen und Auflistungen einzelner Aspekte überarbeitet, um eine bessere Übersicht zu gewährleisten und hoffe, dass die Lektüre dadurch noch übersichtlicher wird.
Viele Vergnügen bei der Lektüre.
Christian Hartmann
Pähl, Oktober 2013
VORWORT DES HERAUSGEBERS (2010)
„Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes.2 Krankheit kann jeder finden.“ (A. T. Still)
VORGESCHICHTE
Dieser berühmte Ausspruch des Entdeckers der Osteopathie bezog sich nicht nur auf das therapeutische Wirken, sondern drückt eine grundsätzliche anthropophile Lebenseinstellung aus, die man als ethische Grundlage der Osteopathie bezeichnen kann. Es geht darum, den Fokus nicht auf Pathologie, Krankheit, Kaputtes, Schlechtes oder ‚Böses‘ etc. zu richten, sondern stets auf das Gesunde, das Potential bzw. das Gute. Kein anderer hat sich dies mehr zu Herzen genommen als Stills berühmtester europäischer Schüler, John Martin Littlejohn. Als er seine Heimat Schottland verließ3, um in sich den Vereinigten Staaten niederzulassen, war er noch keine 30 Jahre alt, unendlich wissensdurstig, akademisch hochdekoriert und bereits Leiter eines angesehenen Colleges. Dann kam es zur schicksalhaften Begegnung mit Still, und Littlejohn entschloss sich, seine glänzenden Karriereaussichten aufzugeben, um in Kirksville an Stills Schule Osteopathie zu erlernen und zugleich Physiologie bzw. Psychophysiologie zu lehren. Es darf spekuliert werden, welche Gründe ihn zu dieser Entscheidung bewegt haben mögen, fest steht jedenfalls, dass Littlejohn den Rest seines Lebens der Osteopathie widmete – insofern muss Stills Philosophie den jungen schottischen Gelehrten zutiefst bewegt haben. Seine Entscheidung sollte sich als eine der größten Glücksfälle für die Zukunft der Osteopathie erweisen. Warum?
Still war kein hochgebildeter Mann. In der unwirtlichen Wildnis des Mittleren Westens um die Mitte des 19. Jahrhundert konnte er sich glücklich schätzen, gerade einmal Lesen und Schreiben erlernt zu haben. Dem gegenüber standen seine unendliche Neugier, seine außerordentliche Fähigkeit wertfrei zu beobachten, enorm schnell komplexe Zusammenhänge systemübergreifend zu verstehen und diese mit einfachen Worten auszudrücken. Jeder Mensch sollte Osteopathie verstehen können. Dementsprechend einfach, metaphorisch und unterhaltsam – heutzutage würde man dazu wohl ‚populärwissenschaftlich‘ sagen – versuchte er in seinem Reden, Handeln und Schreiben die Osteopathie zu leben. Die Sympathie der Bevölkerung war ihm damit ebenso sicher wie die Verweigerung der Akzeptanz auf medizinischer Ebene.
Als pragmatischer, sachlicher und vorurteilsfreier Mensch mit allerhöchsten ethischen Ansprüchen erkannte Littlejohn sofort die enorme Bedeutung von Still Entdeckung für das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. Als gebildetem Akademiker war ihm allerdings auch klar, dass die Osteopathie langfristig ein Mauerblümchendasein fristen würde, wenn sie sich einerseits wissenschaftlich nicht bewähren konnte und wenn die Ausbildung andererseits im Niveau nicht deutlich angehoben werden würde. Da ihm als überzeugten Presbyterianer das Wohl der Menschheit mehr bedeutete als die eigenen Karrieremöglichkeiten, entschloss er sich 1898 nach Kirksville zu ziehen, um die Osteopathie akribisch so aufzuarbeiten, damit sie auch auf wissenschaftlicher und akademischer Ebene der klassischen Medizin auf Augenhöhe begegnen konnte. In den folgenden Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit schuf er die erste solide Basis für die klassische Osteopathie.
ZU DIESEM WERK
Als wissenschaftlicher Insider wusste Littlejohn, dass die akademische Welt lieber falsche Thesen verteidigt, als sich neuen wirklich zu öffnen. Das war damals nicht anders als heute. Deshalb konzentrierte er sich von Beginn an ganz auf die junge Generation der Osteopathen, was die Herausgabe mehrerer osteopathischer Fachzeitschriften und seine umfangreichen Unterrichtsskripte im Vergleich zu den eher spärlichen Veröffentlichungen von Monografien erklärt. Sein Einfluss auf die frühe Osteopathie kann daher gar nicht genug gewürdigt werden, die wenigen Veröffentlichungen sollten aber auch dazu führen, dass sein enormes Vermächtnis nach seinem Tod eigentlich nur von dem englischen Osteopathen John Wernham in seiner ganzen Tragweite verstanden und am Leben gehalten wurde.
Der wohl größte bisher ungehobene Schatz der Osteopathie liegt in Littlejohns bisher unveröffentlichten umfangreichen Unterrichtsskripten. Aus seiner Zeit in Amerika sind das Principles, Physiology exhausted, Osteopathic Therapeutics: Diagnosis, Psychiatry, Psychophysiology und Osteopathy for lay people), aus seiner englischen Zeit die lecture notes.4
Da es zu den lecture notes bis heute keinen Zugang gibt, sind die drei großen amerikanischen Skripte die umfangreichste und beste Quelle, um Littlejohns Wissenschaft der Osteopathie wirklich studieren zu können. Und obwohl eine Veröffentlichung von Principles und Physiology exhausted vor dem zwischen 1898–1906 entstandenen Osteopathic Therapeutics: Diagnosis sinnvoll erscheint, habe ich Letzteres vorgezogen. Nach fast einem Jahrzehnt der Vorarbeit in Bezug auf die Veröffentlichung deutscher Texte, die den theoretischen, d. h. den philosophischen Unterbau der klassischen Osteopathie darlegen, war es nun einfach an der Zeit, auch den Vorhang in Bezug auf die klinische Arbeit in den Gründerjahren zu lüften. Und hierzu eignet sich meiner Meinung nach keine andere Abhandlung so hervorragend wie das Ihnen vorliegende Werk.
Wer Stills Bücher studiert hat erkennt bei Littlejohn sofort dessen Fähigkeit, die zwischen den Zeilen versteckten Ideen seines Lehrers minutiös freizupräparieren, sie wissenschaftlich zu durchleuchten und entsprechend so aufzubereiten, dass auch Fachleute sich ein kritisches Urteil darüber bilden konnten und auch noch immer können.5
Die Kernaussage dabei: Osteopathie ist keine alternative oder komplementäre Form der Medizin, sondern die höchste und modernste Weiterentwicklung der (funktionellen) Medizin jener Zeit. Und anders als Still, der seine Philosophie in einer Sprache für das einfache Volk verklausulierte, belegte Littlejohn dies mit unzähligen unwiderlegbaren anatomisch-physiologisch Argumentsketten. Die Brillanz seiner logischen Überlegungen, gepaart mit dem enormen akademischen Wissen seiner Zeit sind dabei bis heute einfach nur faszinierend. Abgesehen davon, dass Osteopathie historisch eindeutig nachweisbar die Grundlage der Chiropraktik und Chirotherapie ist, bilden die Arbeiten von Littlejohn und einigen Schülern wie H. H. Fryette und C. P. McConnell den Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Entwicklungen innerhalb der Medizin. Und Sie bietet klassischen Medizinern ebenso viel Stoff zur Inspiration und Diskussion wie ‚modernen‘ Osteopathen. Hier nur eine Auswahl, was Ihnen in diesem Buch begegnen wird:
Die Salutogenese steht im Zentrum allen Denkens und Handelns. Symptome sind niemals pathologisch, sondern stets ein physiologischer Ausdruck des lebendigen Körpers. Daher geht es niemals um das Behandeln einer Krankheit, sondern um das Optimieren physiologischer