Die osteopathische Theorie beruht im Wesentlichen auf der Anschauung, dass dieses Eingreifen natürlich, das heißt ohne Medikation mit fremden Körpersubstanzen, auf zweifache Art wirkt:
(1)Durch Stimulation der Produktion oder Verbindung von Substanzen, die vom Körper oder seinen Teilen benötigt werden – und
(2)durch Manipulation spezifischer Körperteile, sodass die gebildeten Substanzen von der Natur aufbereitet und zu den Teilen gebracht werden, die sie am meisten benötigen, um sämtliche, die normale Vitalität behindernde Einflüsse auf die Gesundheit zu beseitigen.
Liegen beispielsweise Störungen von Nieren oder Blase vor, erscheint der renale Referenzbereich an der Wirbelsäule bei der klinischen Untersuchung für gewöhnlich empfindlich. Dies führt uns zur genaueren Untersuchung dieses Bereichs, um irgendwelche anomalen Variationen, die eine Störung oder eine Dislozierung bei den renalen Nerven betreffen, oder etwas anderes in der spinalen Artikulation zu finden, das mit Druck einhergeht, oder eine Störung der Trophizität der Organe bewirken kann. Es ist allgemein anerkannt, dass Läsionen bei Ataxie nicht durch eine primäre Sklerose der Neuroglia verursacht werden. Die Degeneration beginnt an den Verlängerungen der posterioren Nervenwurzeln im Rückenmark. Entsprechend der allgemein akzeptierten Theorie geht die Degeneration auf die Unterbrechung der ernährenden Aktion des posterioren Ganglions durch einen Druck auf die Nervenfasern am Eintrittspunkt in das Rückenmark zurück. Die Fasern werden für gewöhnlich an diesem Eintrittspunkt behindert. Es ist daher leicht zu verstehen, dass eine Behinderung, wie eine Verdickung oder Verhärtung der Meningen, welche die Vaskularisierung und den Stoffwechsel an diesem lokalen Punkt betreffen, zu einer Degeneration der intraspinalen Fasern führen kann. Eine Manipulation zielt in diesem Bereich konsequenterweise darauf ab, den lokalen Druck zu entfernen und die ernährende Kontinuität der Nervenfasern im Rückenmark wiederherzustellen.
Was für einen kleinen Teil des Körpers gilt, ist ebenso für den Körper als Ganzes wahr. Alle Teile des Körpers sind vegetativ miteinander vereint. Jedem Organ und jedem Teil des Körpers scheint zumindest unbewusst, dass es bzw. er einen Teil eines mächtigen Ganzen repräsentiert. Versagt irgendein Teil, besteht das Gesetz des Lebens darin, dass alle Teile miteinander leiden, denn von der großen Quelle des Gehirns an bewusster und unbewusster Kraft bis hin zum kleinsten Nervenfilament im entferntesten Teil des Körpers besteht eine untrennbare Beziehung von Struktur, Funktion und vitaler Aktivität, welche die Triebfeder des Lebens bildet. Ein Mensch kann nicht vollkommen gesund sein, wenn auch nur die winzigste, zu einem Augenlid führende Nervenfaser der Irritation unterworfen ist, und dieses Gesetz gilt auch für jeden anderen Teil des Körpers. Wann und wo auch immer diese winzigsten Variationen des Normalzustandes festgestellt werden, besteht Krankheit in wahrer und substanzieller Ätiologie. Und das ist eine ergiebige Quelle von Fehlernährung, Irritation und Degeneration, die so viele pathologische Symptome hervorruft.
Hierauf gründet die Ursachensuche der osteopathischen Diagnose. Drei Zielgebiete bilden hier die großen Überschriften:
(1)Dislozierungen von Knochen, Knorpel, Ligamenten, Muskeln, Membranen oder Organen;
(2)Störungen im freien Strömen der Körperflüssigkeiten, die das Blut, die Lymphe und andere Sekretionen des Körpers betreffen;
(3)Störungen bzw. Fehlanordnungen durch Belastungen, Traumata, Verdickung, Verhärtung usf. des Nervensystems, einschließlich seiner Zentren, Ganglien, Plexus und Fasern.
In diesem Sinn wird das physiologische Denken der osteopathischen Therapie einfach und besteht aus dem Anpassen der Krankeitsursache(n)61. Korrelierend mit der Diagnose umfassen die Anwendungen:
(1)Wissenschaftliche Manipulationen, die darauf abzielen, Dislozierungen in den knöchernen und anderen Gewebestrukturen des Körpers zu korrigieren.
(2)Wissenschaftliche Manipulationen, die die Zirkulation der Körperflüssigkeiten anpassen und normalisieren, insbesondere bei Mängeln in der Blutzirkulation.
(3)Wissenschaftliche Manipulationen, die das Nervensystem mit all seinen Strukturen modifizieren und anpassen, das allgemeine System bzw. seine lokalen Teile tonisieren, die trophischen Zustände der Nerven und Muskeln anregen sowie eine normale vegetativ vermittelte Korrelation zwischen psychischen und physiologischen Funktionen des menschlichen Systems ermöglichen.
Der gesamte Körper dient der funktionellen Aktivität. Mithin gibt es keinen Abfall und nichts Überflüssiges, ebenso keinen Raum im Körper für irgendeinen anomalen Zustand. Folglich schließt die leichteste Abweichung von der Normalstruktur eine Störung der organischen Aktivität mit ein und kann zu unermesslichem Schaden im neuronalen oder muskulären System führen. Theoretisch bezieht sich die Osteopathie auf einen Idealkörper, dessen knöchernes Gerüst vollkommen angepasst und fein angeordnet ist, dessen Muskeln sorgfältig an Ursprung und Ansatz befestigt sind, dessen Blut frei in jedem Teil jedes Organs und Gewebes zirkuliert und dessen Nervenkraft das assimilierende und lebensspendende Prinzip im gesamten Körper darstellt. Es besteht eine physiologische Sympathie zwischen allen Teilen des Körpers, die einzig auf der Nervenkraft gründet. Die Gesetze der Nervenenergie stellen jene Prinzipien zur Verfügung, aufgrund derer diese ununterbrochene Sympathie erhalten werden kann. Und zugleich erklären sie alle möglichen Abweichungen vom Gesundheitsstandard. Die Wiederherstellung der Ordnung im System muss in Harmonie mit diesen Gesetzen erfolgen.
Das grundlegende Prinzip besteht darin, dass jedes Körpergewebe und jede Struktur des Körpers seine Rolle im gesunden Zustand kontinuierlich ausführt. Die Körperstruktur stellt das Gerüst dar, an dem weiteres Körpergewebe aufgebaut und an dem es befestigt wird. Mithin liefert das knöcherne Gerüst Orientierungshilfen für die physische