Der Einfluß des chinesischen Kempō auf die japanischen und okinawanischen Kampftechniken
Nach alten Aufzeichnungen soll in der Edo-Zeit der Chinese Chin Gempin26 als erster das Kempō nach Japan gebracht haben. Es heißt, er habe Kempō im Songshan-Shaolinkloster gelernt und sei ein genialer Mensch gewesen, der im gesamten Wissen seiner Zeit bewandert war, d. h., nicht nur im Konfuzianismus, im Buddhismus und im Taoismus, sondern auch in der Kalligraphie und der Tuschemalerei, der Poesie, der Herstellung von Keramik, Süßigkeiten und Kräutermedizin und darüber hinaus auf dem Gebiet der Akupunktur und Moxibustion27. Nach seiner Ankunft in Nagasaki reiste er auf der Hauptinsel bis in die Region um das heutige Nagoya. Er soll dreimal vom Regenten Tokugawa Iemitsu empfangen worden sein und viele Fürsten getroffen haben, denen er seine Künste vermittelte. Der Kitō-Stil des japanischen Jūjutsu wurde von Fukuno Masakatsu Shichiroemon und Ibaragi Sensai entwickelt, nachdem sie von Chin Gempin unterrichtet worden waren.
Andere Stile hatten ebenfalls ihren Ursprung in China, so z. B. der bekannte Yōshin-Stil, der zu Beginn der Edo-Zeit in Nagasaki von dem Arzt Akiyama Shirōbei geschaffen wurde. Dieser beruhte auf Kempō-Studien, die der Mediziner während einer Chinareise betrieben hatte. Aus dem Tenshin-Shinyō-Stil, der aus dem Yōshin-Stil hervorgegangen war, sowie aus dem Kitō-Stil, entwickelte Kanō Jigorō später das Jūdō.
Daraus läßt sich allerdings nicht schließen, daß die ursprünglichen Stile des Jūjutsu direkt aus dem chinesischen Kempō stammen. Auch in Japan gab es seit alter Zeit Techniken des waffenlosen Kampfes. Der Takenouchi-Stil, der als der älteste im japanischen Jūjutsu gilt, hatte seinen Ursprung in Kurzschwerttechniken, die Takenouchi Hisamori angeblich in der Folge eines langen Gebets, in dem er den Geist des Berges Atago gebeten hatte, ihn zu einem Meister in den Kampfkünsten zu machen, von einem weißhaarigen Bergmönch vermittelt bekam. Dies ereignete sich einhundert Jahre vor dem Eintreffen von Chin Gempin (1587-1670), zu Beginn der Zeit der Feudalkriege im 16. Jahrhundert.
Selbstverständlich hat das chinesische Kempō das japanische Jūjutsu stark beeinflußt. Es war wohl nicht sein Ursprung, aber es nährte und förderte seine Entwicklung. Im Jūjutsu werden z. B. atemi, d. h., gegen bestimmte Körperteile gerichtete, lebensgefährliche K.-o.-Schläge, nicht eingesetzt und demzufolge auch kaum trainiert. Hingegen sind Würfe und Hebeltechniken sehr wichtig. Vor allem sollte das Jūjutsu den Kampf mit der Waffe unterstützen. Seit dem 12. Jahrhundert, der Kamakura-Zeit, als die Ära der Samurai begann, erlebte Japan eine Blütezeit der Schwerttechniken, so daß waffenlose Techniken nur eine sekundäre Rolle spielten.
Auch vom Karate wird oft behauptet, daß es seinen Ursprung im chinesischen Kempō habe. Wegen der technischen Ähnlichkeiten und der Bezeichnungen für die Kata ist das auch durchaus naheliegend. Aber es existieren darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen. Also kann man diese Hypothese auch nicht als bewiesen betrachten. Auf Okinawa gab es seit alter Zeit eine Form des Kempō, die man einfach »Hand« (jpn. te bzw. de) nannte. Dagegen bezeichnet man das chinesische Kempō als »Chinesische Hand«, Tōde.
Seit Mitte des 14. Jahrhunderts war das Königreich Ryūkyū der Ming-Dynastie in China gegenüber tributpflichtig. Die Beziehungen zwischen den Ryūkyū-Inseln und China wurden in der Folge enger als die zwischen Japan und China. Bewohner der Ryūkyū-Inseln, die zu Studienzwecken oder als Gesandte China bereisten, wurden nicht nur durch die chinesische Kultur beeinflußt, sondern brachten auch Kenntnisse über die Kampfkünste in ihre Heimat. Natürlich kamen auch viele Chinesen vom Festland nach Okinawa und vermittelten den Insulanern ihr Wissen. Dabei spielten wahrscheinlich die Leibgarden der chinesischen Beamten, die als Gesandte – oder, um es mit einem modernen Wort auszudrücken, als Botschafter – nach Okinawa reisten, eine wichtige Rolle. In der Geschichte der Ryūkyū-Inseln gab es 23 solcher chinesischer Missionen, denen neben den Gesandten auch Wach- und anderes Begleitpersonal angehörte. Insgesamt waren es ca. 500 Chinesen, die auf diese Weise die Inseln bereisten. Schon wegen der Bedrohung durch Seeräuber mußten die Leibwächter zu der in den Kampfkünsten besonders geschulten militärischen Elite gehören. Während der Begrüßungsfeierlichkeiten für die Gesandtschaften aus China führten Leibwächter offenbar auch chinesische Kempō-Kata, sogenannte Tao, vor. Die Kata Wanshū und Kōsōkun des Shuri-te beispielsweise sollen nach den Leibwächtern benannt sein, durch die sie überliefert wurden.
Es gibt auch die Meinung, die Bezeichnung »Hand« (te) für die Ryūkyū-Techniken entspräche dem in Japan üblichen Sammelbegriff von den »18 Kampfkünsten« (Bugei jū happan).28 Denn ebenso wie die Samurai in Japan trainierten auch die Bushi29 auf den Ryūkyū-Inseln verschiedene spezielle Kampftechniken.
Die Herausbildung des originären okinawanischen Karate erfolgte insbesondere unter dem Einfluß von zwei Perioden des Waffenverbots auf der Insel. Nachdem es Fürst Oho (Shō) Hashi (1372-1439) gelungen war, das Land zu vereinigen, ließ König Oho (Shō) Shin (1465-1526) die lokale Oberschicht entwaffnen und zwang sie zur Ansiedlung in der Burgstadt Shuri. Er verbot das Tragen von Waffen, schuf eine Zentralgewalt und eine allgemeine Rechtsordnung.
Im Jahre 1609, nahezu anderthalb Jahrhunderte nach dem ersten Waffenverbot, eroberte der japanische Shimazu-Klan die Ryūkyū-Inseln. Diese Samurai hatten ihren Hauptsitz im Süden von Kyūshū, in der Region Satsuma. Erneut wurde allen Okinawanern das Tragen und der Besitz von Waffen verboten. Unter diesen Bedingungen mußte man sich bei der Entwicklung der te genannten Kampftechniken zwangsläufig auf den waffenlosen Kampf orientieren. So entstand unter dem Einfluß des chinesischen Kempō das Ryūkyū-Kempō, die Urform des heutigen Karate.
Wäre auch in Japan der Waffenbesitz verboten gewesen, hätten sich wahrscheinlich hier ebenfalls dem Karate ähnliche Formen des waffenlosen Kampfes entwickelt. Wären andererseits auf den Ryūkyū-Inseln Waffen erlaubt gewesen, hätten sich vermutlich dem japanischen Jūjutsu ähnliche Begleittechniken zum Schwertkampf herausgebildet. So aber entstand auf Okinawa eine einzigartig reine Form des waffenlosen Kampfes, über die mein Vater im Vorwort zu seinem 1934 erschienenen Buch »Angriffs- und Abwehrtechniken zur Selbstverteidigung im Karate Kempō«30 folgendes schrieb:
Am Südwestzipfel Japans gibt es eine Inselkette, die sich wie ein Tau (jpn. nawa) durchs offene Meer (jpn. oki) zieht. Deshalb heißt sie auch ›Tau im offenen Meer‹, also Okinawa. Seit alter Zeit sind diese Inseln berühmt als bewaffnetes Land ohne Waffen. Denn seine Waffen sind allein die Karate-Kampftechniken.
Karate als Grundlage aller Budō-Kampftechniken
Mein Vater pflegte zu sagen: »Karate ist der legitime Erbe der Bujutsu-Kampfkünste«.31 Ich denke, Karate ist tatsächlich die Grundlage aller Budō-Kampftechniken. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste besteht darin, daß der Kampf mit nichts als den eigenen Händen die primitivste, ursprünglichste Form des Kampfes darstellt. Darüber hinaus ist es gerechtfertigt zu sagen, daß die Waffen vom Stock über Schwert, Pfeil und Bogen und Gewehr, bis hin zur Rakete letztendlich nichts anderes sind als Verlängerungen der Hand.
Hat man keine Waffen oder verzichtet man auf ihren Einsatz, bleibt einem nichts, als mit den leeren Händen zu kämpfen. Wurde ein Samurai von einem Unbewaffneten zum Kampf herausgefordert, legte er ohne zu zögern seine Waffen zur Seite und stellte sich dem waffenlosen Kampf. Die Turniere der Heian- und Kamakura- Zeit begannen immer mit dem Bogenschießen. Danach folgten in kürzer werdenden Abständen Speer- und Schwertwettkämpfe. Wurden die Zweikämpfe zu hitzig, kam das Kommando: »Achtung! Auseinander!« Daraufhin wurden die Waffen abgelegt, und es begann der Kampf mit bloßen Händen.
Um den Kampf mit bloßen Händen zu unterstützen, nutzte man im übrigen grundsätzlich alle gerade verfügbaren geeigneten Dinge. Daraus entwickelten sich die verschiedenen Techniken zum Kampf mit Waffen. Im Unterschied zum Jūjutsu, welches ein technisches System zur Unterstützung von Schwert- und anderen Waffentechniken ist, hat das Karate zu seiner Unterstützung Waffentechniken integriert. So wurden auf den Ryūkyū-Inseln schon in alter Zeit verschiedene Alltagsgegenstände der Bauern und Fischer, unter anderem der Stock (bō), der Dreizack (sai), der Stock mit seitlichem Griff (tonfa) und der mehrgliedrige Stock (nunchaku) als Karate-Hilfsmittel eingesetzt.32
Der zweite Grund,