Bauers Methode wurzelt ganz im Historismus, der von einer Autonomisierung des historischen Bewusstseins72 geprägt ist. Sie setzt die Gültigkeit historischer Fakten voraus und scheut sich nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse mit kirchlichen Behauptungen kritisch zu konfrontieren.73 Bauer ist demnach ebenfalls Vertreter einer profanen Kirchengeschichtsschreibung,74 deren Aktualität und Fruchtbarkeit im Folgenden zu erweisen sein wird.
Die Übernahme seines Ansatzes bedeutet nicht, dass ich mit den Einzelergebnissen seiner Arbeit stets übereinstimme. So waren am Ende des 2. Jh.s die ketzerischen Lehren bzw. das, was die offizielle Kirche als häretisch ansah, nicht unbedingt identisch mit dem, was gewisse Kreise ein Jahrhundert zuvor als ketzerisch betrachteten.75
Auch sind diejenigen Gruppen, die am Ende des 2. und am Ende des 1. Jh.s Ketzerhüte verteilten, in ihrer Theologie nicht automatisch miteinander gleichzusetzen. Wohl aber bedeutet Bauers Fragestellung, die ausgehend vom Ende des 2. Jh.s für die frühe Zeit die Ausdrücke »Ketzerei« und »Rechtgläubigkeit« zunächst rein formal gebraucht, einen fruchtbaren Gesichtspunkt, um der Vielfalt von »Christentümern« in den ersten beiden Jahrhunderten und ihrer Kämpfe untereinander gewahr zu werden. »Rechtgläubigkeit« bezeichnet dann, für die frühe Zeit gebraucht, nur den Anspruch, den rechten Glauben zu besitzen, der ihn anderen, die davon abweichen, abspricht und sie sogleich der Ketzerei bezichtigt. Ferner ist offenbar in manchen Gebieten das, was später als ketzerisch galt, der »Rechtgläubigkeit« vorangegangen.
Diese Erkenntnis Bauers bewährt sich besonders hinsichtlich der ältesten judenchristlichen Gemeinde Jerusalems, deren Nachfahren zu Ketzern erklärt wurden. Sie dürfte aber auch für andere christliche Gruppen zutreffen.
Schließlich stellt sich im Anschluss an Bauers Werk die Aufgabe, darzustellen, wie sich trotz oder gerade wegen der Pluralität christlicher Gruppen in der Frühzeit später eine »rechtgläubige« katholische Kirche mit festen Formen und Institutionen entwickeln konnte, von der die »Ketzerei« endgültig ausgeschieden wurde. Da jedoch seit der Publikation seines Werkes in der zweiten Auflage (1964) der gesamte Handschriftenfund von Nag Hammadi zugänglich ist76, ferner die sog. ntl. Apokryphen mehr beachtet werden77 und überhaupt das 2. Jh. verstärkt das Interesse der Forschung gefunden hat78, ist eine neue Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge sinnvoll, dies um so mehr, als die Herausbildung dessen, was als Neues Testament bekannt ist, in diesem 2. Jh. erfolgte.79 M. a. W., in dieser Zeit – nicht schon im 1. Jh. – schälte sich die grund-legende Entscheidung über die Zusammensetzung der heiligen Schrift der katholischen Christen und über ihre »richtige« Auslegung heraus, die einschneidende Konsequenzen für nichtkatholische Gruppen hatte. Pointiert gesagt: In der Zeit von der ersten christlichen Generation bis zum Ende des 2. Jh.s fielen wichtigere Entscheidungen für die gesamte Christenheit als vom Ende des 2. Jh.s bis heute.
Zum Aufbau des vorliegenden Buches
Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich mit zwei ketzerbestreitenden Werken aus dem Ende des 2. bzw. dem Anfang des 3. Jh.s, den fünf Büchern »Gegen die Häresien« des Bischofs Irenäus von Lyon und der »Prozesseinrede gegen die Häretiker« aus der Feder Tertullians von Karthago. Beide Werke haben wesentlich zur »Widerlegung« der von der katholischen Kirche ausgeschiedenen Ketzereien beigetragen und mit ihrem Geschichtsbild, dass angeblich allseits die Orthodoxie der Ketzerei voranging, christliche Theologie fast 2000 Jahre lang zur Selbsttäuschung verleitet und die kritische Forschung davon abgehalten, die christlichen Ursprünge, so wie sie wirklich waren, zu rekonstruieren. Indem ich die Arbeitsweise dieser beiden einflussreichen Ketzerbestreiter genau untersuche und ihre Grenzen aufzeige, will ich ein Stück des Schleiers lüften, der nach wie vor über den ersten beiden christlichen Jahrhunderten liegt.
In Kapitel 3 geht es um die Jerusalemer Judenchristen der ersten beiden Jahrhunderte. Die Überschrift lautet: »Wie aus Ketzerbestreitern Ketzer wurden oder: Die Jerusalemer Judenchristen in den ersten beiden Jahrhunderten«. Sie orientiert sich daran, dass der älteste sichtbare Kampf gegen Andersdenkende von den ersten Christen in Jerusalem ausging. Sie waren es, die faktisch den Begriff der Ketzerei in die Kirche gegen Paulus eingeführt haben, während sich dieser durch eine relativ große Offenheit gegenüber andersdenkenden Christen auszeichnete. »Die noch in den Anfängen stehende Verfestigung der Gedankenbildung im Verein mit der apostolischen Weitherzigkeit, die allen alles werden kann, um alle zu gewinnen, lassen ihn eine Duldsamkeit entfalten, die kaum einen Ketzer kennt.«80
Über die Apostel vor sich schreibt Paulus: »Ob nun ich oder jene, so predigen wir, und so seid ihr zum Glauben gekommen«. (1Kor 15,11).
Angesichts von Widersachern zeigt er sich versöhnlich und bemerkt:
(15) »Einige zwar predigen Christus auch aus Neid und Streit, einige aber auch mit guter Absicht;
(16) die(se) aus Liebe, weil sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums bestimmt bin;
(17) die (anderen) aber verkündigen Christus aus Selbstsucht, nicht aufrichtig, in der Meinung, meine Fesseln zu verunglimpfen.
(18) Was tut’s? Nur dass auf jede Weise, sei es zum Schein oder wahrhaftig, Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich.«. (Phil 1,15 – 18a)
Selbst die Auferstehungsleugner in Korinth (1Kor 15,12) versucht Paulus zu überzeugen, ohne sie aus der Gemeinde auszuschließen. Nur bei einem Verstoß wie dem sexuellen Verkehr zwischen Stiefsohn und Stiefmutter (1Kor 5,1 ff) und gegenüber judenchristlichen Widersachern, die in seine heidenchristlichen Gemeinden eingedrungen waren, wird Paulus rabiat. Im letzten Fall spricht er ein konditionales Verdammungsurteil (Gal 1,8 f.; vgl. Phil 3,2) als Reaktion81 auf seine eigene Verketzerung hin aus, und im ersten wird »die Übergabe an den Satan« durch die ausdrückliche Aussage der Rettung im Endgericht eingeschränkt.82 Paulus als dem einzigen Ketzer der ältesten Zeit ist daher Kapitel 4 dieses Buches gewidmet.
Die übrigen Kapitelüberschriften ergeben sich daraus, was zum Ketzertum als Gesichtspunkt der Darstellung gesagt wurde, fast wie von selbst. Kapitel 5 stellt die sachlich in zwei Flügel gespaltenen Pauluserben dar, die sich beide ausdrücklich auf den Apostel beriefen, unter Benutzung seines Namens Briefe verfassten bzw. fälschten und von denen der eine Flügel den anderen verketzerte.
Kapitel 6 wendet sich aus sachlichen Gründen im unmittelbaren Anschluss daran Markion zu, dem großen Reformator des 2. Jh.s, der den ersten ntl. Kanon, bestehend aus LkEv und Paulusbriefen (beide jeweils in ihrem »ursprünglichen« Inhalt), zusammenstellte, aber bald als Erstgeborener des Satans verketzert wurde. Kapitel 7 handelt von den chronologisch vor Markion liegenden Ketzereien im johanneischen Schrifttum, wobei die durch einen Glücksfall im 2Joh und 3Joh dokumentierte Spaltung des johanneischen Kreises besondere Aufmerksamkeit erfährt.
Nachdem so an konkreten Personen und Situationen Schlaglichter auf die »Ketzereien« im Urchristentum geworfen worden sind und ihre Geschichte nacherzählt worden ist, wendet sich Kapitel 8 der Frage der Entstehung des apostolischen Glaubensbekenntnisses und Kapitel 9 dem Problem der Ausbildung des ntl. Kanons zu. Damit