Er wandte sich wieder dem Park zu.
»So ist das nun mal. Ende der Geschichte. Sie verderben alles. Und allmählich macht mich das krank und hoffnungslos. Deswegen habe ich hier herumgesessen und nichts getan. Ich meine – was gibt es denn noch? Mir fällt nichts anderes ein, was ich tun könnte.«
Tom fragte sich, wie Mrs. Wilson wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er selbst, weit davon entfernt, Lance aus dem Sumpf der Verzweiflung herausziehen zu können, in dem er versunken war, allmählich das Gefühl hatte, er könnte sich genauso gut neben seinen Freund aufs Bett setzen und sich einer ganz ähnlichen Verzweiflung hingeben. Was er selbst kürzlich erlebt hatte, hatte eine Tür in ihm geöffnet, durch die Lances Pessimismus hereinkommen und sich in ihm einnisten konnte. Einen Moment lang sank ihm der Mut. Er kam sich ratlos und verloren vor.
Jedes Mal, wenn Lance Toms Brief und seine negativen Auswirkungen erwähnt hatte, war es von Beth mit einem fassungslos vorwurfsvollen Blick oder Kopfschütteln in Richtung ihres Freundes quittiert worden. Tom wusste nur zu gut, was sie dachte. Warum in aller Welt hatte er, der doch die Anfälligkeit seines Freundes in bestimmten Bereichen kannte, Lance mit einer so ausgiebig ausufernden Bürde düsterer Trübsal beladen? Warum nur? Tom stellte sich die Frage selbst. Ich hatte mitten in der Nacht das verzweifelte Bedürfnis, mit einem Freund zu reden, gab er sich zur Antwort. Aber warum Lance? Warum nicht Olly? Nun, weil Lance sich auf das Weichliche, Verletzliche in ihm einlassen würde. Olly würde hingehen wollen, um die drei Männer aus dem Zug aufzuspüren und etwas gegen sie zu tun. Deshalb. Das ist keine Entschuldigung, sagte Beths Geist. Das ist absolut keine Entschuldigung.
Beth hatte miterlebt, wie Olly bei ähnlichen Gelegenheiten mit Lance umgegangen war. Die kleinsten Gelegenheiten sofort nutzen, wenn sie sich ergeben. Das schien die Regel zu sein. Selbst ein winziger Schritt in die richtige Richtung war besser als nichts. Sie beschloss, es zu versuchen.
»Lance, ich habe hier zwei meiner besten Freunde am Hals, die beide tief im Loch der Verzweiflung stecken. Um damit klarzukommen, brauche ich eine Menge Energie, und ich habe noch nichts gegessen. Könnten wir vielleicht hinunter zum Goldenen Drachen gehen und dort weiter Trübsal blasen? Ich verspreche dir, du musst dich nicht besser fühlen. Du darfst sogar für uns bezahlen, wenn dir das hilft, dich schlechter zu fühlen. Was meinst du?«
Zum ersten Mal an diesem Abend schaute Lance ihr voll ins Gesicht. Ein ermutigend spöttischer Ausdruck spielte um seinen Mund.
»Ente?«
»Was sonst?«
»Mit Frühlingsrolle?«
»Natürlich.«
»Hoi-Sin-Sauce?«
»Eimerweise.«
»Ein bisschen Grünzeug?«
»Alles hat seine Grenze, Lance.«
Er nickte feierlich und warf einen Blick auf die vertrockneten Sandwichs an seiner Seite. »Na schön, ich komme mit. Ich habe den ganzen Tag hier herumgesessen. Während ich mich umziehe, könnt ihr zu Mum gehen und ihr sagen, dass sie das Richtige getan hat.« Da war wieder das winzige Lächeln. »Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Gern geschehen«, sagte Tom erleichtert und lächelte seinerseits, als er aufstand. »Wir sehen uns unten.«
SAMSTAG
1
Darky Greens erster Gedanke, als er am Samstagmorgen vom schrillen Pulsieren seines Weckers erwachte, war sein Plan. Wie immer hatte er einen Plan für den Tag. Fünf Dinge waren zu tun. In die Stadt gehen, Friseur, Frühstück, Bausparkasse, Brautschau. Das waren die Punkte auf seiner Liste, die er sich gestern Abend säuberlich auf einem Blatt Papier notiert hatte, das nun seinen genau zugewiesenen Platz auf dem Tisch neben seinem Bett belegte. Bis auf die letzte war bei all diesen Aktivitäten das kleine Goldkörnchen einer Belohnung abzusehen, das sie mit sich bringen würden. Mit der Brautschau war das etwas anderes. Die Brautschau konnte einen unerwarteten Verlauf nehmen oder in eine ungewohnte Richtung führen, doch Darky hatte eine Menge Geld dafür ausgegeben, um in diesem Bereich eine, wie er fand, sehr wertvolle Grundlage zu legen. Es würde schon gut gehen. Geld und Macht waren die weichen, rettenden Kissen, auf die er sein Haupt legte, wenn die Ereignisse ihm das Selbstvertrauen auszusaugen drohten. Es würde gut gehen. Heutzutage ging es erstaunlicherweise fast immer gut.
Aber erst einmal hieß es aufstehen. Routine. In Darky Greens persönlichen Gewohnheiten herrschte eine strenge Ordnung. Das lag daran, dass er in so vielen Heimen und Sonderschulen gewesen war. Newlands zum Beispiel. Da hatte man um sein Bett herum seinen eigenen Bereich. Einen eigenen Kleiderschrank, sein eigenes Waschzeug. Eigene Bilder und Fotos, die man mit Reißzwecken an seinem eigenen Stück Wand befestigen durfte. Eigene Sachen im eigenen Regal. Eigenen Platz unter dem Bett für den Koffer, den man brauchen würde, wenn man wieder weiterzog. Das alles musste in Ordnung gehalten werden, sonst verlor man gewisse Privilegien, wenn Dan oder Mike oder Mr. Tennant oder June oder wer auch immer gerade Dienst hatte, am Morgen die Runde machte und die Zimmer inspizierte. Und Darky hatte es sowieso gerne ordentlich. Sobald man Unordnung zuließ, konnte das bedeuten, dass die Erinnerungen wiederkamen. Das heißt, eigentlich stimmte das so nicht. Es waren eigentlich gar keine Erinnerungen. Na ja, eigentlich schon, aber es waren Erinnerungen an Dinge, die er gefühlt hatte, keine klaren Bilder von Dingen, die tatsächlich passiert waren. Heilloses, panisches Entsetzen. Eine tiefe, atemlose Angst, dass niemand je wiederkommen würde. Hunger. Brennender Durst. Schmerzende, kalte Beine. Ein säuerlicher, durchdringender Geruch. Ein hölzern klapperndes Geräusch in der Dunkelheit.
Die dicke, orangefarbene Mappe, auf der sein richtiger Name stand, Richard Verne Green, hatte Darky nie gesehen. Seit er anderthalb Jahre alt gewesen war, bis zu dem Tag, als er mit achtzehn die Fürsorge verließ, war dieses Dossier von Leuten geführt worden, die fürs Jugendamt arbeiteten. Seine einzige Erinnerung daran, wie jemand sie erwähnt hatte, rief ein solches Gefühl der Demütigung in ihm hervor, eine solch glühende Hitze in seinen Wangen, dass er selbst jetzt noch, fünfzehn Jahre später, eine Melodie summen, sich die Haare kämmen oder sein Geld zählen musste, wann immer diese Erinnerung in ihm aufstieg. Eines Tages hatte Mike Sands, einer der Betreuer in Newlands, vor Darkys Ohren erwähnt, dass es für alle Kinder in dem Heim ein Dossier im Büro gab.
Das Büro kannte der zehnjährige Darky. Dort hatte er geweint, als er hergekommen war, weil er Mr. und Mrs. Bishop vermisste, obwohl er sie eigentlich gehasst hatte. Es war ein Ort, wo man eine andere Art von Gelächter von den Mitarbeitern hören konnte, wenn sie dort drinnen zusammensaßen und Bier tranken, das einer von ihnen aus der Kneipe holte, sobald die Kinder im Bett waren. Dort gab es einen Schreibtisch und ein Telefon und ein Anschlagbrett und scheppernde Metallschränke, vollgestopft mit Papieren. Außerdem war das Büro der Ort, wo der Sozialarbeiter, der für einen zuständig war, immer verschwand, wenn er zu Besuch kam, um sich mit den Newlands-Mitarbeitern über Dinge zu unterhalten, die man nicht hören durfte, obwohl klar war, dass sie sich nur um ihn drehen konnten. Er hasste das. Was war ein Dossier? Seine undeutliche Vorstellung war, dass