„Nicht unbedingt. Ob Lauge oder Säure macht doch für die Therapie einen ziemlichen Unterschied.“
„Hast im Chemieunterricht also doch ein bisserl aufgepasst, wie?“
Beide lachten. Sie erinnerten sich an ihre gemeinsame Zeit in der Siebten und Achten, als der halb blinde Professor Salcher, fraglos eine Kapazität in seinem Fach und sogar Herausgeber des Schulbuchs für organische und anorganische Chemie am Gymnasium, vor Unterrichtsbeginn immer durch Abzählen der Köpfe die Anwesenheit zu kontrollieren pflegte. Wobei der alte Lehrer, nachdem die Schüler herausgefunden hatten, wie katastrophal es um sein Augenlicht bestellt war, auch schon mal einen Sturzhelm anstatt eines Kopfes zählte. Den hatten die Burschen einfach auf die Schulbank gestellt, und sie ließen ihn zum Gaudium aller ein bisschen wackeln, wenn Salcher gerade einen absenten Schüler aufrief. Huber? Anwesend! Irgendein Komiker fand sich immer, der die Stimme des Fehlenden zu imitieren wusste.
Aber Frieda wollte noch nicht von ihrem Lieblingsthema lassen.
„Was willst du eigentlich therapieren, meine Liebe? Die Säure- oder Laugenspritzer sind doch allüberall. In den Kliniken ebenso wie in den Kirchen. Und es braucht keine Kanzel mehr – es genügt der gemeine Volksaltar, um die Leute zu verblöden. Vor allem, wenn diese Predigten auch noch im Fernsehen massenhaft Verbreitung finden.“
Emma nickte, aber ihr Nicken pendelte schnell zur Seite hin aus. Eine Geste, die Frieda seit der Schulbank kannte und die ganz eindeutig Zweifel signalisierte.
„Was ist? Sehe ich etwa zu schwarz?“
„Ach, keine Ahnung.“
Emma kratzte sich an der Nase wie andere hinterm Ohr. „Vielleicht hat dein Groll ja einen tieferen Grund. Etwas Persönliches womöglich. Ist es nicht meist etwas tief in unserem Inneren, das den berühmten Weltschmerz auslöst?“
„Verdammt, Emma, fängst du jetzt auch noch an mit dieser Masche! Wenn ich etwas hasse, dann ist es das Geschwafel vom je eigenen Anteil, vom unbewältigten Problem, das jeder, der etwas kritisiert, angeblich mit sich herumschleppt. Als ob es nichts Objektives mehr gäbe. Die objektive Scheiße, die sich durchaus beschreiben lässt, ohne dass man sich zu ihr in die Kloschüssel legen muss.“
„Die klinisch saubere Diagnose meinst du? Wissenschaft als Religionsersatz? Aber vielleicht machst du es dir doch ein bisschen zu einfach. Ich weiß ja, was du über Gott und die Welt denkst oder besser gesagt über den Umgang von unsereins mit Gott. Von wegen, wer da wen gezeugt hat, wer da wen braucht. Du hast es mir oft genug gepredigt.“
Emma legte eine kleine Pause ein, vermutlich um die Gewichtigkeit der nachfolgenden Worte zu untermauern.
„Trotzdem glaube ich, dass auch du nicht so sicher bist, wie du tust. Und ist es ein Wunder? Wovon letztlich eine Wirkung ausgeht, können wir doch nicht allein chemisch-analytisch bestimmen, Frieda! Von wem stammt das Zitat Wer heilt, hat recht?“
„Vergiss es! So, wie der Spruch heute ständig verwendet wird, wenn der Hintergrund eines Heilungsprozesses nicht bekannt ist, ist er unredlich! Warum wohl führen ihn gerade die sogenannten Naturheiler und Komplementärmediziner ständig im Mund? Auch wenn es einem Patienten egal sein mag, was genau zu seiner Heilung beigetragen hat – für einen Mediziner ist es doch ein Armutszeugnis, wenn er akzeptiert, dass der Weg zum positiven Ergebnis nicht nachvollziehbar ist. Evidence based medicine, Emma! Die Ursache für eine bestimmte Wirkung mag nicht immer bekannt sein – aber messbar sollte sie wohl in jedem Fall sein. Freilich, eine bloß behauptete Wirkung braucht keine nachweisbaren Messdaten. Ich meine, wenn diese Heinis nur einen Funken Medizinerehre im Leib hätten, würden sie die angebliche Wirksamkeit ihrer Methoden und Mittel doch überprüfen wollen, mit Handkuss! Aber indem sie die Schulmedizin ablehnen, bestreiten sie zugleich jede wissenschaftliche Überprüfbarkeit und drücken sich vor jeglicher Verantwortung. Weißt du, wie viele Akademiker alleine unter meinen Bekannten so gestrickt sind? Und das sind oft dieselben, die die Herkunft jedes billigen T-Shirts penibel hinterfragen: Es könnte ja in Bangladesch von Kinderhänden hergestellt worden sein, oder die Baumwolle wurde womöglich nicht nach ökologischen Kriterien angebaut. Tolle Logik, tolle Konsequenz, nicht?“
Sie wurden durch die Stimme Billie Holidays unterbrochen.
Don’t know why, there’s no sun up in the sky, stormy weather. Frieda entschuldigte sich und angelte das Handy aus ihrer Handtasche. glenk stand auf dem Display, absichtlich kleingeschrieben. Sie konnte den Chef der Wissenschaftsabteilung nun einmal nicht ausstehen. Glenk teilte ihr mit seiner schnarrenden Stimme mit, sie möge ihre Sachen packen und morgen in aller Früh in die Redaktion kommen. Worum es ging, wolle er am Telefon nicht sagen.
„Morgen? Du weißt schon, dass ich mir für morgen freigenommen habe?“
„Doch, morgen. Punkt acht in der Redaktion. Anordnung von God himself.“
Schöne Scheiße! Wenn Glenk den Chefredakteur ins Spiel brachte, war klargestellt, dass sie es gar nicht erst mit einer Ausrede versuchen musste. Was gleichzeitig bedeutete, dass sie auf die letzte lange Nacht des Festivals, normalerweise der feuchtfröhliche Höhepunkt, verzichten musste. Ade, mein fescher Fiedler! Und ewig schade auch um das Abendkonzert mit Roland Neuwirths Extremschrammeln, ihrer Lieblingsband. Aber angetrunken und im Dunkeln konnte sie unmöglich die hundertfünfzig Kilometer von Litschau nach Wien zurückfahren.
Obwohl das Telefonat nicht länger als eine Minute gedauert hatte, kam die Diskussion mit Emma danach nicht mehr so recht in Gang. Und da die Gastgeberin ohnehin erklärt hatte, dass sie nur bis fünfzehn Uhr Zeit habe (der wöchentliche Yogakurs, leider, den dürfe sie auf keinen Fall versäumen!), erhob sich Frieda aus dem Schneidersitz. Sie küssten einander zum Abschied auf die Wangen. Dreimal, wie es sich gehörte oder wie man es ihnen jedenfalls damals auf der Interrailreise beigebracht hatte. Das Geschmuse hatte sich schon einmal herzlicher angefühlt.
Als Frieda in den Lift stieg und Emmas kleine, zarte Hand ihr ein letztes Mal durch die milchige Scheibe zuwinkte, gab es ihr einen Stich in der Brust: Et tu, Brute! Schon das Interview mit Thomas Mitterer hatte ihr gezeigt, wie selbst ausgebildete Chemiker begannen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es war ein Sumpf, der unaufhaltsam mächtiger und tiefer wurde und jeden verschlang, der sich ihm näherte. Diese Wirkung jedenfalls war unbestritten, evident. Dafür brauchte es keine Beweise.
Irritierend nur, dass Emmas Satz auch ein paar Stunden später noch in ihr arbeitete: Wovon letztlich eine Wirkung ausgeht, können wir doch nicht allein chemisch-analytisch bestimmen.
5
Als sie die Redaktion betrat, spürte sie sofort, dass etwas passiert war. Statt der üblichen Betriebsamkeit herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Dicke Luft trotz des weit geöffneten Fensters.
Glenk kam aus seinem Glasverschlag und versuchte, ihr die Jacke abzunehmen. Aber sie war schneller. Wenn sie etwas hasste, waren es diese patriarchalen Gesten. Außerdem passte es nicht zu Glenk, dem Grantler, wenn er sich als Gentleman aufspielte. Höchstens wie die Faust aufs Auge.
„Kommen S’, wir gehen rauf“, brummte er und stapfte los, ohne auf ihre Reaktion zu warten. Sie trottete hinter ihm her. Fillinger logierte im vierten Stock, und der Lift war wieder einmal außer Betrieb. Vermutlich ließ ihn Fillinger absichtlich nicht reparieren, weil er dadurch zu ein bisschen Bewegung genötigt wurde. Was ihm auch durchaus nicht schadete.
Das Büro des Chefredakteurs war spartanisch eingerichtet. Nur ein Foto seiner Familie im Holzrahmen zierte den Schreibtisch, sonst fand sich im ganzen Raum nichts Persönliches. Das Berufliche und das Private trennen, so lautete schließlich sein Credo. Eines von vielen.
„Sie werden gleich verstehen, warum wir Sie auf die Schnelle zurückholen mussten“, sagte